Geh aus, mein Herz
nachdächte.
Jonathan Wide durchquerte den Raum und stieg die Treppe hinauf, die nicht so stark knarrte, wie er erwartet hatte. Es war, als hätte die Feuchtigkeit das Holz zu einer Masse zusammengezogen, die die Geräusche für sich behielt. Erst als er die oberste Treppenstufe erreichte, federte die geschliffene Tannenplanke unter seinem Fuß und gab ein kurzes Brmp von sich.
Hier oben befanden sich drei große Schlafsäle. Wide ging nach links und betrat einen Raum, in dem jetzt keine Betten mehr standen. Sie waren andernorts innerhalb der barmherzigen Gemeinde benötigt worden. Die Luft hier drinnen war kalt und dick, wie Wasser an der Grenze zum Gefrierpunkt. Er ging zum Fenster. Es war zweifach verglast; das hätte er dem Haus gar nicht zugetraut. Durch die leicht beschlagenen Scheiben konnte er den Rasen unten sehen, die Fahnenstange, die in einem schlechten Zustand war, nachdem hier jahrelang nicht mehr der »Tag der schwedischen Flagge« begangen worden war. Das nördliche Ufer, wo er nicht gewesen war. Die kleine Steinmauer, die den Hof umschloss. Das Tor. Sein Auto davor, ein fremdes Wesen und der hässlichste Gegenstand in seinem Blickfeld. Dahinter der Wald.
Wide stand mit geschlossenen Augen mitten im Schlafsaal. Dann verließ er ihn und ging in den Saal gegenüber. Er trat ans Fenster: die Bucht dort unten, wo er seine Hand ins Wasser gehalten hatte, die Eichen, der Spielplatz, auf dem immer noch ein Schaukelgestell stand, das jetzt so verrostet war, dass nicht mehr zu erkennen war, welche Farbe es einmal gehabt hatte.
Wer kann schon erkennen, welche Farbe wir einmal gehabt haben, dachte er und hielt die Formulierung in seinem Kopf fest. Die sagte etwas aus. War er ein Dichter?
Wide verließ den Raum, ließ die oberste Treppenstufe aus, hörte aber trotzdem ein Brmp von der zweitobersten, als seine sechsundachtzig Kilo darauf landeten. Unten entdeckte er eine Tür, die er vorher nicht gesehen hatte, ganz hinten im Speisesaal vor der kleinen Eingangshalle.
Die Tür war angelehnt, er drückte leicht dagegen und schaute in einen mittelgroßen Raum. Die Wände rundherum waren mit Vorratsregalen bedeckt. Die Regale waren leer. Er betrat den Raum und entdeckte ganz hinten auf einem breiteren Regalbrett einen ordentlich gestapelten Haufen: Militärdecken oder typische Decken, die es immer in einem Sommerlager gegeben hatte, zwanzig Decken oder mehr.
Wie lange lagen sie hier schon? Warum waren sie liegen geblieben? Wide musterte den Stapel. Er war größer gewesen, höher. Nein. Das war verdammt weit hergeholt. Darin lag ein Symbolwert. Aber war er nicht deswegen hier? War seine Reise denn etwas anderes als eine Suche in einer weit entfernten Vergangenheit? Warum fand er einen halbhohen Stapel Decken? Es muss etwas zu bedeuten haben, dachte er, und plötzlich wurde ihm sehr kalt.
Was war hier passiert? Innerhalb dieses Gebäudes, an diesem Ort – hatte sich etwas Entsetzliches abgespielt. Wide war seiner Sache sicher wie jemand, der nichts weiß, sich aber umso stärker auf sein Gefühl verlässt.
Draußen hatte ein sanfter Landregen eingesetzt; das war der Unterschied zum Meer, das in Göteborg gemeinsame Sache mit dem Himmel machte und mit lauter Stimme Aufmerksamkeit verlangte. Wide hatte vergessen, wie leise ein Herbstregen in Småland sein konnte. Er hob sein Gesicht, aber der Regen schien an ihm vorbeizufallen und seine Haut nicht zu berühren. Wide öffnete das quietschende Tor, ging an seinem Auto vorbei und in den Wald dahinter. Der war sehr dicht, als ob Wildnis und Boden sich nachdrücklich in Erinnerung bringen wollten, wenn es dem Himmel nicht gelang.
Als er in der Anstalt gewesen war, eine Bezeichnung, die er passend fand, war es vorgekommen, dass Kinder aus dem Gebäude in den Wald geflohen waren. Der Ruf hatte sich unter den anderen fortgepflanzt: »Lasse ist abgehauen!« Aber meistens war es ein Spiel gewesen mit einem Anflug von Ernst, eine Art halb verzweifeltes Versteckspiel, das vorbei war, bevor sich die Dunkelheit der kurzen Nächte herabsenkte. Wie war es hier wohl zugegangen? War jemand »abgehauen«? Er musste Siv Karlsson danach fragen, ob sie sich an dergleichen erinnerte. Aber ihre Erinnerungen waren so schwach gewesen. Er hatte sie verstanden, er konnte sie buchstäblich sehen unter den kleinen Mädchen damals, abends weinten sie nach jemandem im Mädchensaal und drückten sich tagsüber an den Hausecken herum.
Wide ging tiefer in den Wald, der eher ein Dickicht war.
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