Geh aus, mein Herz
Gefühl wie ein Trinker, der den richtigen Entschluss zur richtigen Zeit gefasst hatte. Schon zu häufig hatte er reuevoll gefrühstückt mit der Übelkeit im Magen, die zum Katerzentrum des Gehirns aufstieg. An diesem Morgen konnte er mit klaren Augen und kräftigem Appetit das Frühstücksbüffet von Värnamos Stadthotel genießen. Aber gleichzeitig schämte er sich. Wer war er denn, dass er sich anmaßte, Urteile zu fällen wie am vorigen Abend über die Suche der Menschen nach einem bisschen Freude auf dem Tanzboden zu Musik, die nicht seinem Geschmack entsprach? Es waren Leute wie er. Er war nichts Besonderes.
Fünf Minuten nach neun machte er sich auf den Weg zu Natanael Maars, der ihn schon erwartete. Auf dem Tresen lag ein Kuvert.
»Da sind sie.«
»Das ging ja planmäßig.«
»Natürlich. Außerdem sind es gute Bilder, klar und scharf.«
»Hervorragend.«
»Möchten Sie sie sofort sehen?«
Wide war sehr neugierig, aber er brauchte Ruhe, wenn er die Bilder zum ersten Mal studierte.
»Ich schau sie mir im Hotel an.«
»Wie Sie wollen.«
Wide kehrte ins Hotel zurück, setzte sich aufs Bett, stand jedoch sofort wieder auf und ging zum Schreibtisch. Er nahm eine Mappe aus seiner Tasche, breitete Passbilder und die Bilder der Kinder aus, denen der Tod dann schon in ihren mittleren Lebensjahren begegnen sollte, und öffnete dann das Kuvert des Fotografen.
Er hielt ein Bild hoch und drehte es um: Hindsekind 1961. Ein ordentlicher Stempel. Dann betrachtete er das Foto: Kinder im Badezeug, einige mit Bällen in den Händen; Jungen und Mädchen. Bevor er jedes einzelne Gesicht studierte, zählte er: zweiundfünfzig Kindergesichter, acht erwachsene Gesichter, lauter Frauen. Im Hintergrund: viel Laubwerk, links Wasser, das zwischen den Beinen von zwei Jungen hindurchschimmerte, die am Rand der Gruppe standen. Einer der Jungen war im Profil zu sehen und schien etwas zu sagen, als das Bild aufgenommen wurde. Der andere schaute geradeaus, genau in die Kamera. Es war Rickard Melinder.
Wide hatte gewusst, dass Melinder auf einem dieser Bilder sein würde, aber er zuckte trotzdem zusammen.
Sorgfältig musterte er die anderen. Nichts. Er ging von links nach rechts über die vier unregelmäßigen Reihen von Kindern, entdeckte aber niemanden mehr, bei dem er erneut hätte zusammenzucken müssen.
Er legte das Foto hin, nahm das andere, drehte es um und stellte fest, dass es ein Jahr später aufgenommen worden war, 1962.
Als Erstes zählte er die Gesichter: sechsundvierzig, ein paar weniger im Vergleich zum Jahr davor. Er suchte von rechts nach links und zuckte noch einmal zusammen. Jedenfalls fühlte es sich so an. Rickard Melinder stand ungefähr an derselben Stelle, wo er ein Jahr zuvor gestanden hatte, den Blick genauso geradeaus gerichtet. Neben ihm stand Bengt Arvidsson, der Junge aus Mariannelund, den auf einem Hügel im westlichen Göteborg ein Eisenrohr in den Nacken getroffen hatte.
Ihm fielen die Zwillinge auf, die ganz vorn vor den Kindern saßen, zwei Jungen, und über ihnen drei Mädchen und dahinter noch fünf Mädchen; Augen, die in die Sonne blinzelten, Badekleidung, die auf eine Weise lose herunterhing, wie sie das nur in den frühen sechziger Jahren tun konnte.
Rechts, ganz außen, war ein Mädchengesicht, ein Stück vom Arm einer der jungen Frauen zu sehen, aber es reichte Wide, um Ulla Bergsten – als Erwachsene Ulla Torstensson – zu identifizieren.
So war es, und er spürte ein Frösteln auf seiner Kopfhaut. Hier waren sie versammelt gewesen. Kaum vorstellbar, dass sie sich erst später getroffen hatten. Bisher hatten Ards Ermittlungen keine anderen Berührungspunkte aufgedeckt, doch jetzt stand fest, dass die drei Opfer einmal eine relativ lange Zeitspanne unter demselben Dach miteinander zugebracht hatten.
Wer waren all die anderen auf dem Foto? Es lohnte den Einsatz, sie zu finden. Die erwachsenen Frauen: Er hatte schon vorher an sie gedacht, jetzt hatte er die Gesichter und hoffentlich auch bald die Namen, wenn der Sohn des Leiters aus Asien heimkehren würde – oder wo der sich gerade aufhielt. Der konnte die Papiere hervorholen, und wenn er es nicht konnte, dann würde er ihn dazu drängen, sich das Foto so lange anzuschauen, bis seine Erinnerung zurückkehrte. Die Kinder: Befand sich unter ihnen ein erwachsener Mörder? Das war ein unheimlicher Gedanke.
Jonathan Wide checkte aus, fuhr vom Hotelparkplatz, steuerte wieder am Gymnasium vorbei und dann nach links auf der 127 in
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