Geh aus, mein Herz
hier wegführen würde; die Geräusche und Bewegungen hinter dem Kind, als die anderen Kinder ihre Betten abdeckten für die erste Lektion »Betten machen«. Später die Stille, als er im Bett in dem Schlafsaal lag, dessen Wände sich nach außen wölben mussten von all den Sehnsüchten der Kleinen, die an jemanden weit Entfernten dachten, jemanden, an den man sich schmiegen konnte. Aber das Kind, das er war, sollte bald begreifen, dass viele der Kinder, mit denen er den Sommer verbracht hatte, zu Hause keine Geborgenheit erwartete.
Der erwachsene Jonathan Wide verließ das Kind am Fenster und ging nach links, zwischen dem größeren Gebäude und einem kleineren hindurch, in dem vielleicht die Betreuerinnen ihre Schlafräume gehabt hatten, junge Frauen, die in den Sommerlagern des Landes arbeiteten, als das schwedische »Volksheim« in all seiner Pracht errichtet wurde. Sie waren nett und ein wenig linkisch gewesen, erinnerte Wide sich. An dem Ort, wo er gewesen war, hatte die Leiterin sie in der Zucht des Herrn gehalten. So viel hatte er damals schon begriffen. Einige Male hatten die Kinder es auch zu spüren bekommen, aber nicht oft.
Er ging zum Wasser hinunter, der kleinen Bucht, die im Schutz einer Eiche mit einem geteilten Stamm lag. Der Platz für die Morgen- und Abendwäsche, fürs Bad unter strenger Aufsicht. Zu seiner Zeit waren sie nach dem Abendessen in Reih und Glied hinuntermarschiert. War es hier genauso gewesen? Er trat an den Wassersaum, hockte sich hin und legte die linke Hand auf die Steine unter der Wasseroberfläche. Das Wasser war kalt, aber nicht so kalt, wie er es erwartet hatte. Er ließ die Hand liegen und schaute über den See Hindsen, ein widerspenstiger, unfreundlicher Name, der zu diesem Binnensee mit gezackten Ufern und kleinen, verstrüppten Buchten passte, die er von hier aus sehen konnte. Bis in die Buchten hinein reichte das Licht nicht; wer Sonne im Gesicht haben wollte, musste sich einen langen Steg bauen oder mit einem Boot übers Wasser fahren. Auch die Bucht der Kinder erreichten die Sonnenstrahlen nicht.
Wide zog die Hand aus dem Wasser, das sich fast warm anfühlte, als er sie nach einer Weile in der kalten Luft wieder eintauchte. Er richtete sich auf, kehrte zu dem Gebäude zurück und stieg die kurze, abgetretene Treppe zu dem doppelflügligen Eingang hinauf, während er einen Schlüssel aus der Tasche zog. Aber ein großer Abstand oder besonders gutes Sehvermögen waren nicht nötig, um zu erkennen, dass ihm jemand zuvorgekommen war und das alte Schloss aufgebrochen hatte. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen. Wide zog einen Handschuh an, bevor er die Türklinke berührte und sich Zugang zum Haus verschaffte.
Wer war hier gewesen? Oder: Wer war als Letzter hier gewesen? Kaum denkbar, dass ein Gebäude wie dieses in all den Jahren keinen unerlaubten Besuch gehabt haben sollte. Ein Landstreicher oder mehrere? Jugendliche, die das Abenteuer suchten? Vermutlich. Verliebte? Eine Erklärung gab es immer.
Im Inneren des Gebäudes war es heller und geräumiger, als er erwartet hatte. Er war auch überrascht, wie intakt noch alles war, als ob die Anlage erst in der letzten Saison geschlossen worden wäre. Er sah den Staub in den rechteckigen Lichtflecken der Fenster, aber woran hätte man gesehen, dass es fast zwanzig Jahre alter Staub war? Er erblickte die langen Tische im Speisesaal und die Stühle darauf – einige waren vom Tisch heruntergerissen worden, aber nicht mehr als fünf oder sechs.
Der Saal schien auf Besuch und Leben zu warten, eine Hoffnung, dass Jugendliche herkommen und die Stühle von den Tischen heben und anfangen würden, mit den Bestecken zu klappern.
So hatte es damals ausgesehen, als er selbst Kind gewesen war, und er erinnerte sich an einen sonnigen Vormittag, als er und noch jemand Putzdienst im Speisesaal hatten. Wie die Sonne plötzlich wie ein Scheinwerfer durch ein Fenster hereingeknallt war und wie sie ihn getroffen hatte, wie er mit dem Mopp in der Hand stehen geblieben war und eine der Erzieherinnen das Radio lauter gestellt hatte, als der Hit des Sommers gespielt wurde, einer der wenigen Popsongs, die es damals gab, und wie er im Takt zur Musik mit dem Mopp über den Boden gefahren war, You better come home Speedy Gonzales, dadadarararara. Das hatte er nie vergessen. Es war die schönste Erinnerung jenes Sommers. Die einzige gute Erinnerung, aber vielleicht würde ihm ja noch mehr einfallen, wenn er genauer darüber
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