Geh nicht einsam in die Nacht
sie an.
»Das glaube ich eher nicht.«
* * *
Ich besuchte Henry und Maj-Britt auch diesmal nicht, sie waren auf einer Seniorenkreuzfahrt im Mittelmeer.
Im Flugzeug las ich von den turbulenten Entwicklungen im staatlichen Energiekonzern Fortum. Die Wirtschaftskrise und ein Skandal um Bonuszahlungen hatten das Unternehmen in den Grundfesten erschüttert, so dass die Firmenspitze umgebaut werden musste. Vorstand und Aufsichtsrat sollten ausgetauscht werden, und es wurde intensiv über denkbare Kandidaten spekuliert. Besonders hoch gehandelt wurde Aufsichtsratsprofi Susanna Everi, 46. Ich musterte das Bild der selbstsicher lächelnden Suski und dachte, dass es mir offenbar nicht möglich war, nach Schweden zu reisen, ohne dass jemand aus dem Familienclan der Everis mir Gesellschaft leistete.
Ich war am frühen Morgen abgereist, bei meiner Ankunft war es immer noch Vormittag. Im Vergleich zum November war fast alles verändert. Das Haus war nicht feucht und der Garten nicht schmutzig gelb und braun, sondern einladend, der Flieder blühte, ein alter Apfelbaum hatte gerade seine Blütenblätter verloren, unter seiner Krone war das Gras weiß. Im grellen Vorsommerlicht wirkten Ariels Gesichtszüge noch trockener und scharf geschnittener als in der Novemberdunkelheit, und in meinem Gehirn reihte sich ein Sprachbild an das andere: kaputtgeschnitzter Klotz, Staubdattel, sonnengedörrter Sioux, Steingeschmeide, Silberseele.
Er freute sich über die Geschenke und war generell viel freundlicher als noch im Herbst. Ich war erleichtert, aber nicht erstaunt. Wir hatten im Frühjahr Briefe gewechselt, und ich wusste, dass wir Freunde werden würden: Es mochte eine Weile dauern, aber es würde geschehen.
Er wollte natürlich spielen und fragte, ob ich die Akkorde zu Geh nicht einsam in die Nacht konnte. Ich antwortete, theoretisch ja, aber dass ich Akkorde wie A+ und E11 niemals schaffen würde. Er ließ das nicht gelten, schloss die Impala an und stimmte sie. Wir spielten den Song in einem langsamen Tempo, und ich stolperte, wie befürchtet, jedes Mal über A+ und E11.
»Wir fahren ans Meer«, sagte Ariel anschließend, »ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich folgte seinen Anweisungen, und wir fuhren einige Kilometer die Küste hinunter. Wir kamen an einem Fischerhafen vorbei und folgten einer staubigen Sandpiste, die parallel zum Ufer verlief. Danach fuhren wir durch ein Wäldchen und ein offenes Tor und gelangten in eine flache und offene Landschaft, die geradewegs ins Meer zu führen schien. Sie sah aus wie eine Savanne, eine karge Grassteppe, die von knorrigen, mannshohen Wacholderbüschen geziert wurde, die sich jedes Mal wieder stur aufrichteten, wenn die Stürme sie zur Erde hinabgebeugt hatten. Es war eine Halbinsel, erkannte ich, die sich ungefähr einen Kilometer in südliche Richtung ausdehnte und an deren äußerstem Punkt ein Leuchtturm stand.
Wir stiegen aus dem Wagen und folgten der Sandpiste gen Süden. Wir waren die einzigen Menschen weit und breit, es gab nur uns und die vom Wind gepeitschten Wacholderbüsche, die aussahen wie altersgekrümmte Greise, und sahen eine Unmenge von rufenden und singenden Vögeln. Ariel zeigte auf eine Ansammlung unansehnlicher roter und gelber Blumen und sagte: »Holunderknabenkraut. Eine Orchideenart.«
Er zeigte auf einen etwas weiter entfernt wachsenden Blumenbestand und erklärte: »Alpen-Spitzkiele. In einer Woche blühen die Gewöhnlichen Natternköpfe.« Blinzelnd blickte er aufs Meer hinaus:
»Als ich zum ersten Mal hier war, kannte ich nicht eine verdammte Blume.«
»Wann war das?«
»Siebenundsechzig.«
»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte ich.
»Das hier«, antwortete Ariel, »ist die Ebene.«
Ich nickte, schwieg und sah mich um. Das Meer lag still, es glitzerte und glänzte. Das Wasser in Ufernähe war kristallklar, die Algenblüte hatte noch nicht eingesetzt. Eine Seeschwalbe schoss im Sturzflug zur Wasseroberfläche herab und flog anschließend mit einem kleinen schimmernden Fisch im Schnabel wieder auf. Der Himmel war blau und sehr hell, in der Ferne sah man am Horizont einen Frachter. Alles war einfach und offen, und ich spürte eine innere Ruhe, wie ich sie lange nicht mehr empfunden hatte.
»Wir leben in einer schönen Welt«, sagte Ariel.
Wieder dieser Ernst, vollkommen nackt. Und daraufhin sagte ich es ihm.
»Ich möchte eure Geschichte wiederaufleben lassen.«
»Wessen?«
»Deine, Jounis und Adrianas. Ich möchte sie schreiben.«
Er sah
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