Geh nicht einsam in die Nacht
ihrer brutalen ersten Begegnung sollten die beiden Freunde werden.
* * *
Ich möchte eine andere und weiter zurückliegende Geschichte erzählen.
Es ist Frühling in Europa. Adolf Hitler hat in seinem Bunker Selbstmord begangen und das Deutsche Reich kapituliert. Die Rote Armee kontrolliert Berlin, und die Berlinerinnen schließen sich in ihren Wohnungen und Kellern ein, um nicht vergewaltigt zu werden. Josef Stalin behält seine talentierten Marschalle Schukow und Konew wachsam im Auge, während er gleichzeitig geheim zu halten versucht, dass er alle deutschen Atomphysiker finden und nach Moskau schaffen möchte, und zwar möglichst schnell, denn in Los Alamos in New Mexico wird schon seit langem am Projekt Manhattan gearbeitet: Es sind nur noch zwei Monate, bis die Testbombe Trinity in der Wüste detonieren wird. Auch in diesen Wochen kommt es täglich und in allen Himmelsrichtungen zu Grausamkeiten, aber es ist dennoch eine Art Atempause, ein Augenblick, in dem viele der unfassbarsten Gräuel noch hinter der nächsten Ecke der Zeit versteckt stehen. Die Filme aus Auschwitz, in denen Bagger Leichen schaufeln und befreite Gefangene mit erloschenem Blick in die Kamera starren, sind noch nicht verbreitet worden. Und die Besatzung der Enola Gay hat Little Boy noch nicht abgeworfen, und Little Boy hat keine Menschen aus Fleisch und Blut in verbrannte Wandabdrücke von Wesen verwandelt, die eine Sekunde zuvor um ihr Leben rannten.
In Helsingfors ist zartester Mai, und auf dem Järnvägstorget spielt man Friedensjazz. Die Combo, eigentlich The Stomping Indiana Boys, aber zur Feier des Tages in Peace Messengers umgetauft, befindet sich in der Nähe der nordwestlichen Ecke des Platzes, die Ladefläche eines LKW bildet ihre Bühne. Der Wagen steht in einer Linie mit der Centralgatan, und die Musiker sitzen so, dass ihre Gesichter dem Restaurant Fennia im Osten zugewandt sind. Einer von ihnen, der zweite Trompeter, heißt Lennart Wahl und hat einen knapp zweijährigen Sohn namens Ariel, den er bald verlassen wird, denn Lennarts Nerven sind zerrüttet und er ist dem Alkohol verfallen, und nach einer Operation, bei der sein linker, von Granatsplittern zerfetzter Fuß, fast hätte amputiert werden müssen, ist er morphiumsüchtig.
In derselben Ecke des Platzes steht eine junge Frau namens Elina Savander. Als der Winterkrieg ausbrach, war sie erst siebzehn Jahre alt, vor ein paar Tagen hat sie ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Sie ist blond und trägt einen schwarzen Rock und einen dunkelgrünen Mantel in einem Schnitt, der vor dem Krieg modern war: Sie hat ihn von ihrer Tante Hilkka bekommen, die an Krebs erkrankt ist und den Sommer wohl nicht überleben wird. Auch ihr Hut ist aus der Mode, und die Pumps, die ihre Mutter Kerttu ihr im Sommer 1940 schenkte, sind verfärbt und abgetreten.
In der Nähe des Orchesterpodiums herrscht ein fürchterliches Gedränge, an Tanzen ist nicht zu denken. Aber das stört keinen, niemand lässt sich davon die gute Laune verderben, denn trotz der leichten Wolkenbank, die von Porkala im Südwesten heranzieht, ist es ein Tag des Lichts, ein Tag des Erwachens: Ein sechs Jahre währender Alptraum soll ausgelöscht werden. Nur Elina Savander fällt es schwer, sich mit den anderen zu freuen. Sie ist von vierzigtausend Menschen umgeben, zu denen ihr Verlobter, ihr Bruder und ihre beste Freundin gehören, aber während einiger Minuten zu Beginn des Konzerts sieht Elina nur das, was niemand sonst sehen will. Sie betrachtet nicht den Jubel und die Ausgelassenheit, sondern blickt unverwandt in die Gesichter der Menschen und sieht, wie zerfurcht, wie tief in Freudlosigkeit erstarrt, wie verbittert und gezeichnet sie sind. Sie sieht die Körper, die versuchen, sich im Rhythmus von All Of Me zu drängen und zu knuffen, ihren frisch erwachten Eifer dagegen nicht: Sie sieht nur die hagere, nahezu ausgemergelte Schlaksigkeit so vieler dieser Körper. Sie sieht die Spuren des Kriegs, wie sich die vergangenen sechs Jahre in den Überlebenden abgelagert haben, und um diesem Bild auszuweichen, hebt sie den Blick und richtet ihn auf das große, aber helle Skoha-Haus an der Ecke Brunnsgatan und Centralgatan. Sie schaut weiter die Centralgatan hinunter bis zum Schwedischen Theater, und als ihre Augen zur grauweißen, fast milchigen Wolkendecke hinaufschweifen, wird sie von den Kriegsjahren eingeholt. Plötzlich brechen sie über Elina herein wie eine Herde schwarzer, nach Morast stinkender Untiere, wie
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