Geh nicht einsam in die Nacht
Winter seinem Ende zuneigte und Manner und ich es uns zur Gewohnheit machten, jeden zweiten Donnerstag bei ihm zu Mittag zu essen, wurde mir bewusst, dass er und Ariel auf gegensätzliche Art gealtert waren. Die Erinnerung an Ariels verwitterte Gestalt ließ mich Jouni Manner in einem neuen Licht sehen. Auch er war ein Mann von über sechzig Jahren, dreiundsechzig, aber während Ariel eingetrocknet war, war Manner aufgequollen. Er war nicht nur rundlich geworden, was ihn noch größer aussehen ließ als seine ein Meter und neunzig. Auch mit seinem Gesicht war etwas geschehen. Es gab etwas Gedrungenes, aber zugleich zutiefst Unbefriedigtes darin, seine Wangen waren die runden Backen eines wohlgenährten, aber schwierigen Buben, als wohnte in seinem tiefsten Inneren noch immer ein hungriger Junge, der alles haben wollte und sich nun fragte, warum er es nicht bekommen hatte.
* * *
Anfang März kam ein Brief von Ariel, und wegen dieses Briefs beschloss ich, einen neuen Versuch zu wagen. Es war kein langer oder bemerkenswerter Brief, er schrieb lediglich, dass der Frühling auf Gotland häufig früh komme und man bereits die ersten Knospen sehe. Anschließend schrieb er über unsere Familie, nur ein paar kurze Absätze – »vielleicht möchtest du ja ein bisschen über deine Großeltern väterlicherseits erfahren« –, aber es war das erste Mal, dass ich etwas über jenen Lennart Wahl erfuhr, über den auch Ariel offenbar nur wenig wusste. Er war auch nicht besonders mitteilsam, als es um Lydia ging, und ich glaubte den Grund zu kennen: Ich erinnerte mich an die vielen Lücken, an all das Unausgesprochene in Manners Erzählungen aus der Teenagerzeit der beiden Jungen.
Als ich mich endlich auf den Weg machte, war es schon Anfang Juni, alles Mögliche war mir dazwischengekommen. Die Tage vor meiner Reise verbrachte ich mit Vorbereitungen. Diesmal würde ich mit mehr Gepäck anreisen, was mir klarmachte, dass ich mich emotional bereits engagiert hatte, ob nun willentlich oder nicht. Und ich denke in der Tat, dass ich bereits damals beschlossen hatte, mich diesem Projekt zu widmen, das nun kurz vor seinem Abschluss steht.
Ich ging in einen Plattenladen und kaufte die Doppel- CD für Alex Karjagin mit all seinen Hits. Ich hatte Ariel nicht zu viel versprochen, Jugi Eskelinen spielte auf einer Handvoll Songs Gitarre. Während ich nach der Platte suchte, fiel mir auf, dass der Ladenbesitzer und die anderen Kunden genauso graumeliert waren wie ich: Was für Generationen von Jugendlichen ein Eldorado gewesen war, hatte sich in einen Himmel für alte Knacker verwandelt, eine letzte Freistatt für runzlige Männer mit peinlichem Haarwuchs in der Nase.
Darüber hinaus kaufte ich einen Gitarrenverstärker, einen kleinen, nur ein paar Watt, aber mit einer eingebauten Drum-Maschine und einer Menge anderer Finessen. Danach rief ich Eva Mansnerus an und erklärte, ich hätte mir überlegt, wieder ein bisschen Musik zu machen, verwahrte sie immer noch Ariels alte E-Gitarre bei ihrer reichen Freundin?
»Ehrlich gesagt ist sie bei mir«, antwortete Eva gut gelaunt, »mittlerweile habe ich ja viel Platz. Was ist los, meldet sich die Midlife-Crisis?«
»Ha, ha«, erwiderte ich. Ich hatte Eva noch nichts erzählt und tat es auch an dem Tag nicht. Mir erschien das alles noch so neu und verletzlich. Und so ist es bis heute geblieben. Aber wenn ich es jemandem erzähle, sobald ich hiermit fertig bin, dann ihr.
Als ich auf dem Weg zu Eva war, klingelte mein Handy, und ich sah, dass es Manner war. Ich meldete mich.
»Fährst du hin?«, fragte er.
»Ja, morgen«, antwortete ich.
»Ich habe einen Brief von ihm bekommen«, sagte Manner. »Er hat mal wieder Probleme mit der schwedischen Bürokratie. Es geht um irgendwelche Steuerzahlungen, könntest du ihm bitte ausrichten, dass er mir die Papiere schicken soll, damit ich sie mir ansehen kann?«
»Okay«, sagte ich und fühlte mich wie in einer Zeitmaschine: Jouni Manner übertrug mir wieder einen ehrenvollen Auftrag.
»Sie sieht lustig aus«, sagte Eva, als wir in ihrem Flur standen, »die ist ja ganz schief.«
Wir hatten die schwarze Hagström-Gitarre aus ihrem Koffer geholt, und Eva drehte sie hin und her. »Impala« stand mit unverkennbaren Sechzigerjahrebuchstaben an den Wirbeln.
»Es ist ein seltsames Modell«, stimmte ich ihr zu, »aber bei E-Gitarren kenne ich mich nicht aus, ich habe immer eine akustische gespielt.«
»Willst du Unterricht nehmen?«, fragte Eva.
Ich lächelte
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