Geheimakte: Das Vermächtnis von Nummer Sechs - das Erbe von Lorien
England. Es ist ein einfacher, anonymer Blog-Eintrag. Nur ein paar eindringliche, quälende Worte:
NEUN, JETZT ACHT. SEID IHR ANDEREN IRGENDWO DA DRAUSSEN?
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Es ist ein Schrei in der Wildnis – von einem Mitglied der Garde. Ein Mädchen oder ein Junge, so alt wie ich, sucht nach uns anderen.
In Sekundenschnelle reiße ich Katarina die Tastatur aus der Hand und hämmere eine Antwort in die Kommentarspalte des Blogs.
JA! WIR SIND HIER!
Katarina schlägt meine Hand weg, bevor ich die Enter-Taste drücken kann. »SECHS!«
Angesichts meiner Unüberlegtheit und Hast ziehe ich mich beschämt zurück.
»Wir müssen vorsichtig sein. Die Mogadori sind auf der Jagd. Sie haben Eins getötet, und womöglich sind sie schon Zwei oder Drei auf der Spur …«
»Aber sie ist ganz allein!«, rufe ich. Die Worte sprudeln aus mir hervor, bevor mir überhaupt klar wird, was ich da sage.
Ich habe keine Ahnung, wieso ich es weiß. Es ist mehr ein Gefühl. Wenn dieses Mitglied der Garde so verzweifelt war und im Internet nach den anderen sucht, dann ist sein oder ihr Cêpan bestimmt getötet worden. Ich stelle mir die Angst und Panik dieses anderen Gardisten vor. Nicht vorstellen hingegen kann ich mir, wie es wäre, wenn ich Katarina verlöre, wenn ich allein wäre. Wenn ich ohne Katarina mit allem klarkommen müsste. Völlig undenkbar.
»Was ist, wenn es Zwei war? Was ist, wenn sie sich in England aufhält, die Mogs hinter ihr her sind und sie um Hilfe ruft?«
Noch vor einer Sekunde habe ich darüber gespottet, wie sehr |12| Katarina in die Nachrichten versunken war. Aber das hier ist etwas anderes. Das hier ist eine Verbindung zu jemandem, der genau
wie ich
ist. Jetzt möchte ich verzweifelt aktiv werden und auf seinen oder ihren Hilferuf antworten.
»Vielleicht ist es an der Zeit«, sage ich und balle die Hände zu Fäusten.
»An der Zeit?« Katarina ist verängstigt, ihr Gesichtsausdruck spricht Bände.
»An der Zeit zu kämpfen!«
Katarina schlägt die Hände vors Gesicht und fängt an zu kichern. In derart stressigen Augenblicken reagiert sie manchmal so: Sie lacht, wenn es ernst ist, und ist ernst, wenn sie lachen sollte.
Katarina sieht mich an, und mir wird klar, dass sie nicht über mich lacht. Sie ist nur nervös und verwirrt. »Dein Erbe hat sich noch gar nicht entwickelt!« Nun weint sie. »Wie könnten wir jetzt einen Kampf beginnen?« Sie steht vom Schreibtisch auf und schüttelt den Kopf. »Nein. Wir sind noch nicht zum Kampf gerüstet. Solange deine Kräfte noch nicht entwickelt sind, werden wir keine Schlacht anfangen. Bis die Garde bereit ist, müssen wir uns verstecken.«
»Dann müssen wir ihr eine Nachricht schicken.«
»
Ihr
? Du weißt doch nicht mal, ob es eine Sie ist! Es könnte auch irgendwer gewesen sein. Jemand völlig Unbeteiligter hat sich vielleicht zufällig einer Sprache bedient, die meinen Alarm ausgelöst hat.«
»Ich
weiß
, dass es einer von uns ist.« Ich blicke Katarina durchdringend an. »Und du weißt es auch.«
Katarina nickt. Sie gibt sich geschlagen.
»Nur eine Zeile. Um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein ist. Um ihr Hoffnung zu geben.«
»Wieder ›sie‹«, sagt Katarina lachend, doch es klingt fast traurig.
Ich glaube, dass es ein Mädchen ist, weil ich mir vorstelle, dass die Person, die die Nachricht geschrieben hat, genauso ist |13| wie ich. Eine Version meiner selbst, allerdings viel verängstigter und ganz allein. Ein Mädchen, das ihres Cêpan beraubt wurde.
»Okay«, sagt Katarina. Ich stelle mich zwischen sie und den Monitor und lasse meine Finger über der Tastatur schweben. Ich denke, dass die Nachricht, die ich bereits eingetippt habe,
JA! WIR SIND HIER!
, ausreichen wird.
Ich drücke auf Enter.
Katarina schüttelt den Kopf. Anscheinend bereut sie, dass sie mir so leichtfertig nachgegeben hat.
Innerhalb von Minuten hat sie alle Spuren, die zu uns führen könnten, aus dem Internet getilgt. »Geht’s dir jetzt besser?«, fragt sie und schaltet den Monitor aus.
Ich fühle mich tatsächlich besser, zumindest etwas. Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass ich vor dem Hintergrund des großen Kampfs einem Mitglied der Garde Trost spenden konnte.
Doch bevor ich antworten kann, werde ich von einem Schmerz heimgesucht, wie ich ihn nur einmal zuvor erlebt habe. Wie eine Lanze aus heißer Lava schneidet sich etwas in das Fleisch meines rechten Knöchels. Ich schreie und strecke das Bein so weit wie möglich aus, so als könnte ich dadurch den Schmerz
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