Geheimakte: Das Vermächtnis von Nummer Sechs - das Erbe von Lorien
von meinem restlichen Selbst fernhalten. Dann kann ich es sehen: Das Fleisch an meinem Knöchel brutzelt, qualmt und wirft Blasen. Eine neue Narbe, meine zweite, schlängelt sich quer über meine Haut.
»Katarina!«, schreie ich und hämmere vor lauter Schmerzen mit den Fäusten auf den Boden.
Katarina ist zu einem stummen Schrecken erstarrt und kann mir nicht helfen. »Der Zweite«, sagt sie. »Nummer Zwei ist tot.«
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Katarina stürzt ans Waschbecken, füllt einen Glaskrug mit Wasser und gießt ihn über mein Bein. Ich bin von dem Schmerz wie gelähmt und habe mir die Lippen blutig gebissen. Das Wasser zischt, als es auf mein verbranntes Fleisch trifft, läuft dann über das Spielbrett und spült die Armee-Figuren weg.
»Du hast gewonnen«, probiere ich es mit einem lahmen Witz.
Katarina reagiert überhaupt nicht auf meinen Versuch. Als meine Beschützerin ist sie in den vollen Cêpan-Modus übergegangen und kramt in allen Ecken nach Erste-Hilfe-Utensilien. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, hat sie eine kühlende Salbe auf meine Narbe gestrichen und alles mit Verbandsmull umwickelt. »Sechs«, sagt sie. Ihre Augen haben sich vor Angst und Mitleid mit Tränen gefüllt. Ich bin überrascht, denn sie benutzt meinen wahren Namen sonst nur in äußerst kritischen Momenten.
Aber dann wird mir klar, dass dies genau so ein Augenblick ist.
Seit dem Tod von Nummer Eins sind viele Jahre vergangen und es gab keine besonderen Vorkommnisse. Wir konnten beinahe schon hoffen, dass die Gefahr gebannt war. Und in sehr optimistischen Augenblicken stellten wir uns vor, dass Eins bei einem Unfall gestorben war. Dass die Mogadori unsere Spur gar nicht verfolgten.
Diese Zeit ist vorbei. Das wissen wir jetzt mit Sicherheit. Die Mogadori haben das zweite Mitglied der Garde aufgespürt und ihn oder sie getötet. Zwei kurze Nachrichten an uns, an die Welt da draußen, waren das Letzte, das er oder sie von sich gegeben hat. Sein oder ihr gewaltsamer Tod ist jetzt auf meine |15| Haut eingraviert.
Zwei Todesfälle sind kein Zufall. Der Countdown hat tatsächlich begonnen.
Ich werde fast ohnmächtig, zwinge mich aber zu vollem Bewusstsein, indem ich mir noch härter auf die Lippe beiße. »Sechs.« Katarina wischt mir mit einem Waschlappen das Blut vom Mund. »Beruhige dich.«
Ich schüttele den Kopf. Nein
.
Ich kann mich nicht beruhigen. Niemals.
Katarina versucht, die Fassung zu bewahren. Sie will mir keine Angst machen. Aber sie will auch das Richtige tun und ihrer Verantwortung als Cêpan gerecht werden. Ich kann spüren, dass sie zwischen allen möglichen Reaktionen hin- und hergerissen ist – von kopfloser Panik bis hin zu philosophischer Coolness, was immer für mich und das Schicksal der Garde am besten ist.
Sie hält meinen Kopf fest und wischt mir den Schweiß von der Stirn. Das Wasser und die Salbe haben den schlimmsten Schmerz etwas abklingen lassen. Doch noch immer tut es so höllisch weh wie beim ersten Mal, vielleicht sogar noch mehr. Aber ich will nicht klagen. Ich kann spüren, dass meine Schmerzen und der Tod von Nummer Zwei Katarina so schon genug plagen.
»Alles wird gut«, sagt sie. »Es gibt noch viele andere …«
Ich weiß, dass sie redet, ohne nachzudenken. Sie will mit ihrer Äußerung das Leben der anderen Gardisten – von Drei, Vier und Fünf – nicht herabwürdigen und mein Leben vor deren setzen. Sie ist lediglich bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Trotzdem lasse ich ihr das nicht durchgehen. »Jep. Wie toll, dass es andere gibt, die vor mir sterben müssen.«
»So habe ich das nicht gemeint.« Meine Worte haben sie verletzt.
Ich seufze und lehne meinen Kopf an ihre Schulter.
In den tiefsten Tiefen meines Herzens benutze ich manchmal einen anderen Namen für Katarina. Manchmal ist sie für mich nicht Katarina oder Vicky oder Celeste oder wie immer |16| ihre zahlreichen Decknamen lauten.
In Gedanken nenne ich sie manchmal ganz einfach Mom.
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Eine Stunde später sind wir wieder unterwegs. Katarina umklammert krampfhaft das Lenkrad unseres Wagens, während sie über die Wahl unseres bisherigen Verstecks flucht. Die Straßen in dieser Gegend sind so uneben und staubig, dass man höchstens sechzig Stundenkilometer fahren kann, und wir beide wünschen uns eher eine Geschwindigkeit, die auf einem Highway möglich wäre. Hauptsache, wir können uns so schnell und so weit wie möglich von unserem nun verlassenen Häuschen entfernen. Katarina hat alles Mögliche getan, um
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