Geheime Melodie
Schokoriegel gepaßt hätte. Auch dort waren sie nicht, aber wie sollten sie auch? Sie waren in Bognor.
Inzwischen war ich im Geiste so sehr damit besch äftigt, die jüngsten Ereignisse zu rekonstruieren, daß ich kaum mehr Augen für mein Publikum hatte, dessen Reaktion, wenn ich mich recht erinnere, von Skepsis – Thorne – bis zu übertriebener Besorgnis – Jelly – reichte. Ich entschuldigte mich – wie dumm von mir, muß sie wohl zu Hause vergessen haben und so weiter. Ich schrieb mir Sophies Handynummer auf, damit ich sie anrufen konnte, wenn ich sie gefunden hatte. Ich ignorierte Thornes eisigen Blick und seine Andeutungen, daß ich ihn ja offensichtlich zum Narren hätte halten wollen. Ich verabschiedete mich von ihnen – bis später also –, aber das kaufte mir, glaube ich, keiner von uns ab, ich selber am allerwenigsten. Dann nahm ich mir ein Taxi und ließ mich, ohne eine Deckadresse zu nennen, direkt nach Hause zu Mr. Hakims Pension fahren. Machte ich Hannah Vorwürfe? Ganz im Gegenteil. In mir wallte eine derartige Zärtlichkeit auf, daß ich sie, noch ehe ich die Geborgenheit unseres Allerheiligsten erreicht hatte, nur noch bewundern konnte für den Mut, mit dem sie sich über alle Widerstände hinweggesetzt hatte, sprich: über mich. Als ich vor dem Kleiderschrank stand, war ich nicht empört, sondern stolz, festzustellen, daß Hajs Visitenkarte mit der zittrigen E-Mail-Adresse ebenso verschwunden war wie die Bänder. Sie hatte von Anfang an gewußt, daß Brinkley uns nicht weiterhelfen würde. Sie brauchte keine Eintagesschulungen in Eigensicherung, um zu wissen, daß sie in der Person von Salvo mit den Überresten einer fehlgeleiteten Loyalität zu kämpfen hatte, die sich wie ein Virus in meinem System eingenistet hatte und noch eine Weile darin herumspuken w ürde. Sie wollte nicht, daß Noah seinen Geburtstag in einem Kriegsgebiet verbringen mußte. Sie hatte ihren Weg gewählt, genau wie ich. Beide waren wir von unserem Kurs abgekommen, nur hatten wir uns in entgegengesetzte Richtungen gewandt, sie hin zu ihren Leuten, ich zu meinen. Sie hatte nichts getan, was ich ihr hätte vergeben müssen. Auf dem Kaminsims stand das Programm der Sonntagsschulkinder: 12 Uhr Picknick und Gesang im YMCA … 14.30 Uhr Bognor Dance & Drama Club: Der Wind in den Weiden … 17.30 Uhr Geselliges Beisammensein. Fünf Stunden. Noch fünf Stunden, bis ich ihre bedingungslose Liebeserklärung erwidern konnte.
Ich schaltete die Mittagsnachrichten an. Neue Gesetzesvorhaben zur Bek ämpfung islamistischer Aufwiegler. Geheime Sondertribunale für Terroristen. Mutmaßlicher ägyptischer Bombenleger in Pakistan von US-Team aufgegriffen. Polizei fahndet nach einem dreißigjährigen Mann afrokaribischer Herkunft in Verbindung mit – jetzt kommt’s! – der Tötung zweier minderjähriger Mädchen.
Ich lasse mir ein Bad ein. Lege mich hinein. Ertappe mich dabei, wie ich versuche, Hajs Missionsschullied zu singen. Warum singt ein gefolterter Mann, hat sie mich gefragt. Ihre Patienten singen auch nicht, warum also Haj? Warum sollte ein erwachsener Mann, der schwer mi ßhandelt wurde, ein trauriges Lied über die Tugend eines kleinen Mädchens singen?
Ich steige aus der Wanne, stelle mich schr äg neben das Fenster, das Radio ans Ohr gepreßt, um die Hüften ein Badetuch. Durch die Gardine betrachte ich versonnen den namenlosen gr ünen Transporter, der vor Mr. Hakims Gartentor steht.
Sintflutartige Regenf älle in Südindien. Schlammlawinen. Zahlreiche Opfer befürchtet. Und nun zum Cricket.
F ünf Uhr. Ich gehe die vorgeschriebene Meile, benutze jedoch gegen den Rat meines Ausbilders dasselbe Telefonhäuschen ein zweites Mal. Ich werfe eine Pfundmünze ein und halte die nächste bereit, gerate aber nur an Grace’ Mailbox. Wenn ich Latzi bin, sagt sie, soll ich sie nach 10 Uhr anrufen, dann wird sie allein im Bett liegen! Johlendes Gelächter. Wenn ich Salvo bin, freut sie sich ebenfalls über meinen Anruf, und ich soll ihr eine Liebeserklärung für Hannah hinterlassen. Ich versuche es.
»Hannah, Schatz, ich liebe dich«, sage ich, füge aber aus Sicherheitsgründen lieber nicht hinzu: Ich weiß, was du getan hast, und es war richtig.
Durch Nebenstra ßen gehe ich planlos zurück zu Mr. Hakims Pension. So viele Fahrräder sind unterwegs seit den Bombenanschlägen. Wie Geisterreiter surren sie an mir vorbei. Der namenlose grüne Transporter steht immer noch vor dem Tor. Er hat keinen Parkschein im Fenster. Zeit
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