Geheime Melodie
Berkeley Square umfahren und bog in die Curzon Street ein. Kurz nach dem Kino hielt Fred am Bordstein an und beugte sich über die Rücklehne zu einem kleinen Tête-à-tête unter Spionen.
»Da drüben ist es, Kumpel«, sagte er gedämpft und neigte den Kopf in die Richtung, ohne mit dem Finger hinzuzeigen, falls wir beobachtet wurden. »Die Zweiundzwanzig b, grüne Tür auf der linken Seite, hundert Meter von hier. Oberste Klingel, Harlow , wie die Stadt. Sagen Sie, Sie hätten ein Paket für Harry.«
»Ist Barney auch dort?« fragte ich, von jäher Nervosität gepackt ob der Vorstellung, Mr. Anderson in ungewohnter Umgebung ganz allein gegenübertreten zu müssen.
»Barney? Wer ist Barney?«
Zerfallen mit mir, weil ich überflüssige Fragen stellte, trat ich auf den Gehsteig hinaus. Ein Hitzeschwall schlug mir entgegen. Ein kurvenfahrender Radler mähte mich um ein Haar um und fluchte. Fred brauste davon und ließ mich mit einem Gefühl des Verwaistseins zurück. Ich überquerte die Straße und bog in die South Audley Street ein. Die Zweiundzwanzig b gehörte zu einer Reihe von roten Backsteinhäusern mit sehr steilen Eingangstreppen. Ein trübes Lämpchen beleuchtete sechs Klingelschilder. Auf dem obersten stand mit verblaßter Tinte HARLOW , wie die Stadt. Als ich den Knopf drücken wollte, fand ich mich von zwei höchst kontroversen Bildern bedrängt. Das eine zeigte mir Penelopes Kopf keine zwanzig Zentimeter von Thorne the Horns Hosenstall entfernt, den Blick anhimmelnd zu ihm emporgehoben über den aus ihrem neuen Designertop hervorzwinkernden Brüsten. Und das andere zeigte mir Hannahs stumm sich be wegende Lippen, ihre geweiteten Augen, die ohne einen Lidschlag in meine blickten, w ährend sie auf dem Schlafsofa ihrer klösterlichen Zelle noch die letzten Tropfen meiner Manneskraft aus mir herauspreßte.
»Paket für Harry«, rief ich, und die magische Tür öffnete sich.
* * *
Über Mr. Andersons Äußeres habe ich bisher nichts gesagt, außer daß er Pater Michael ähnelt. Wie Michael ruht er ganz und gar in sich: ein Bär von einem Mann, seine Gesichtszüge so solide wie Lavagestein, jede Regung ein Ereignis. Wie Michael ist er seinen Leuten ein Vater. Man möchte ihn auf Ende Fünfzig schätzen – und mag sein, daß er gestern noch ein schneidiger junger Bursche war, und mag sein, daß er morgen schon auf dem Abstellgleis landet, aber beides wirkt gleich weit entfernt. Er ist die personifizierte Rechtschaffenheit, der Eichbaum, den kein Sturm umblasen kann, das Mark Englands. Selbst wenn er nur durchs Zimmer geht, scheint jeder seiner Schritte moralische Rechtfertigung für seine sämtlichen Handlungen. Auf sein Lächeln wartet man eine halbe Ewigkeit, aber wenn es kommt, fühlt man sich Gott näher.
Mehr noch aber macht ihn f ür mich, wie immer, die Stimme aus: die wohlgezügelten Tempi des Sängers, die sorgfältig gesetzten Pausen, die ihren Zweck nie verfehlen, die kernige nordenglische Kaminfeuer-Gemütlichkeit. Im Chor von Sevenoaks, so hat er mir mehr als einmal erzählt, ist er die Stütze des ersten Basses. In j üngeren Jahren hat er Tenor und Altus gesungen und mit einer Profikarriere geliebäugelt, doch sein Dienst war das stärkere Band. Auch jetzt war seine Stimme der beherrschende Eindruck, als ich über die Schwelle trat. Vage war ich mir noch anderer Geräusche und Gestalten in der Nähe bewußt. Ich sah ein offenes Schiebefenster und sich blähende Stores; offenbar ging hier oben eine Brise, was auf Straßenniveau entschieden nicht der Fall gewesen war. Aber all dies trat zurück hinter der hochaufgerichteten Silhouette Mr. Andersons dort am Fenster und dem heimelig-rauhen Tonfall, mit dem er in sein Handy sprach.
»Er muß jede Minute hier sein, Jack, danke«, sagte er gerade, als stünde ich nicht knapp zwei Meter vor ihm. »Wir schicken ihn postwendend los, Jack – aber schneller nicht.«
Pa u s e. » G a n z r i c h t i g. Sinclair.« Aber Sinclair war nicht der Mann am anderen Ende der Leitung. Nein, Sinclair war Der Mann . »Das ist ihm völlig klar, Jack. Und ich mache es ihm noch mal klarer, wenn er kommt« – jetzt sah er mich direkt an, immer noch ohne ein Wort zu mir –, »nein, er ist kein Neuer. Er hat schon einiges für uns gemacht, und ich gebe euch mein Wort, er ist der Mann für euch. Alle Sprachen von Babylon, in höchstem Maße fähig und durch und durch loyal.«
Konnte das allen Ernstes ich sein, von dem er da sprach – in höchstem Maße fähig,
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