Geheime Tochter
Botengängen für den Sahib vor fünf Stunden fertig. Die einzige vernünftige Erklärung ist die, dass er bei einem Schulfreund ist. Sie haben kein Telefon und Vijays Freunde auch nicht. Wahrscheinlich hat er beim Lernen einfach die Zeit vergessen. Ja, so muss es sein. Er ist ein gescheiter Junge, verantwortungsbewusst. Kavita atmet mehrmals tief durch, während sie Jasu mit dem feuchten Lappen über die Stirn reibt. Wenn er erst wieder arbeiten gehen kann, wird alles gut. Sie hockt sich auf den Boden unter der nackten Glühbirne, die ihr etwas Licht spendet, und näht einen abgerissenen Knopf an Jasus Hemd wieder an, während sie auf Vijay wartet. Wenigstens kann sie sich mit dem Gedanken trösten, dass ein fünfzehnjähriger Junge da draußen im Dunkeln nicht so in Gefahr ist wie eine Frau. Als sie schließlich die Wohnungstür hört, durchströmt sie zum zweiten Mal an diesem Abend eine Welle der Erleichterung. Vijay betritt den Raum.
»Vijay«, sagt sie im lauten Flüsterton und steht auf. »Wo bist du gewesen? Hast du denn keinen Anstand? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«
Ihr halbwüchsiger Sohn, dem schon ein schwacher Oberlippenbart sprießt, zuckt bloß mit den Schultern, die Hände in den Taschen. Er sieht seinen Vater im Bett liegen. »Wieso schläft Papa schon?«
»Du stellst mir keine Fragen, achha . Du beantwortest schön meine Fragen. Papa und ich arbeiten jeden Tag schwer, damit es dir gut geht. Verstehst du?« Der Zorn in ihrer Stimme vermischt sich mit Müdigkeit. Sie fühlt sich plötzlich von allem zu Tode erschöpft.
»Ich arbeite auch«, knurrt Vijay leise.
»Wie? Was hast du gesagt?«
»Ich arbeite auch. Ich verdiene Geld.« Vijays gedämpfte Stimme wird lauter, als er auf seinen Vater deutet. »Sieh dir Papa an! Schon wieder betrunken. Er arbeitet nicht, er schläft.«
Kavitas Hand schnellt hoch, und sie verpasst Vijay eine schallende Ohrfeige. Er weicht völlig verdattert zurück und hält sich die Wange. Er presst fest die Lippen zusammen und schiebt die Hand tief in die Tasche. Er holt ein Bündel Geldscheine heraus und wirft es ihr vor die Füße. »Da! Okay? Jetzt haben wir genug Geld. Papa kann sich besaufen und den ganzen Tag pennen, wenn er will.« Er blickt sie herausfordernd an.
Kavita bleibt das Herz stehen. Sie starrt auf das Geld, als wäre es eine Kobra, die sich aus einem Korb schlängelt. Das müssen mindestens dreitausend Rupien sein. Eine Summe, die er sich unmöglich allein mit Botengängen verdient haben kann. Sie blickt ihren Sohn mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Angst an. » Beta , woher hast du das viele Geld?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen, Ma«, antwortet er und wendet sich ab. »Um mich musst du dir keine Sorgen mehr machen.«
Juli 2001
Am Wochenende haben mein Dad und ich versucht, zwei indische Gerichte zu kochen. Das erste war eine Katastrophe – wir haben den Rauchmelder ausgelöst, weil uns das Öl und die Gewürze in der Pfanne angebrannt sind. Aber das zweite, eine Art Tomatencurry mit Kartoffeln und Erbsen, schmeckte wirklich ziemlich gut.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich das sage, aber ich freue mich richtig auf die Wochenenden, wenn ich mit meinem Dad allein bin. Mom fährt nämlich einmal im Monat nach San Diego, seit Grandma bei sich einen Knoten in der Brust entdeckt hat.
Heute Morgen hat Dad seine Familie in Indien angerufen, und ich habe wieder mit ihnen gesprochen. Es ist ein bisschen komisch, mit Leuten zu reden, die ich nur von Fotos kenne, aber es wird besser. Er hat die Rezepte von seiner Mutter bekommen, und wir sind wegen der Zutaten extra zu dem indischen Supermarkt in Sunnyvale gefahren.
Morgen wollen wir Tennis spielen – Dad trainiert mit mir die Rückhand. Na ja, wir kommen jetzt ziemlich gut miteinander klar. Er regt sich nur immer auf, wenn wir über meine Zukunft reden und ich sage, ich will Journalistin werden und nicht Ärztin. Meine Eltern haben sich sogar richtig gefetzt, als meine Mom mir geholfen hat, ein Praktikum bei einem Radiosender für die Sommerferien zu finden. Ich fand das echt cool von ihr. Sie hat sich sogar total gefreut, als ich für nächstes Jahr zur Chefredakteurin vom Bugle ernannt worden bin.
Endlich streite ich mich nicht mehr so viel mit ihnen wie früher. Und ich kann das Licht am Ende des Tunnels sehen – das letzte Schuljahr geht bestimmt rasend schnell um, und dann gehe ich weg aufs College, wo ich tun und lassen kann, was ich will.
Teil
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