Geheime Tochter
hinzugehören, nicht in diese Familie oder sonst wo. Als würde die ganze Zeit ein Stück von mir fehlen. Versteht ihr das nicht?« Sie blickt ihre Eltern an, sucht in ihren Gesichtern nach irgendetwas, das ihr Trost gibt. Ihre Mutter blickt nach unten auf den Tisch. Ihr Vater hat die Augengeschlossen, die Stirn auf eine Hand gestützt. Sein ganzes Gesicht ist reglos, bis auf den Muskel, der an seinem Kiefer pulsiert. Keiner von beiden sieht sie an.
Asha rappelt sich schniefend vom Boden hoch und rennt nach oben in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tür zugeknallt und abgeschlossen hat, wirft sie sich aufs Bett, schluchzt in die weiße Bettdecke mit Lochstickerei. Als sie schließlich aufblickt, ist es dämmrig im Zimmer und der Himmel draußen vor dem Fenster dunkelgrau. Sie greift in die untere Schublade ihres Nachttisches, holt eine kleine quadratische Dose aus weißem Marmor hervor und stellt sie vor sich hin. Mit zitternden Fingern berührt sie das geometrische Muster, das in den schweren Deckel der Dose eingeritzt ist, die ihr Vater auf einem Flohmarkt für sie gekauft hat, als sie acht war. Er sagte, das Muster würde ihn an Indien erinnern, an die Verzierungen am Taj Mahal.
Sie hebt den Deckel ab und nimmt ein paar Blatt gefaltetes Briefpapier heraus. Das Papier ist dünn und an den Knicken vom vielen Auf- und wieder Zufalten abgenutzt. Unten in der Dose, unter all den Papieren, liegt der dünne Silberreif, den sie jetzt hervorholt. Er ist für den breitesten Teil ihrer Hand fast zu klein, aber sie quetscht und schiebt, bis sie ihn am Handgelenk hat. Sie rollt sich in Embryonalstellung zusammen, drückt ein großes, spitzenbesetztes Kissen an die Brust und schließt die Augen. Sie liegt da, während ihr Zimmer dunkler und dunkler wird, und lauscht den Stimmen ihrer Eltern eine Etage tiefer. Das Letzte, was sie hört, ehe sie einschläft, ist die zuknallende Haustür.
27
Grausame Komplikationen
Mumbai, Indien – 2000
Kavita
Kavita öffnet die Wohnungstür. »Hallo?«, ruft sie. Jasu und Vijay müssten längst zu Hause sein, aber es ist niemand da. Sie fürchtet, dass Jasu sich wieder irgendwo betrinkt. Vor drei Wochen hat er sich in der Fabrik die rechte Hand verletzt, als ein Kollege aus Versehen schon die Stoffpresse einschaltete, während Jasu sie noch justierte. Die Stahlplatten brachen ihm an drei Stellen die Knochen, ehe die Maschine abgeschaltet wurde. Er wurde ins staatliche Krankenhaus gebracht, wo der Arzt ihm die Hand schiente und ihn zurück in die Fabrik schickte. Aber der Vorarbeiter meinte, Jasu würde die Produktion nur verlangsamen, und schickte ihn nach Hause, bis er wieder richtig arbeiten könne. Er bat Jasu, ein paar Papiere mit seinem Daumenabdruck zu unterzeichnen, und erklärte ihm dann, dass er erst wieder bezahlt werden würde, wenn er zurück zur Arbeit käme.
In den ersten paar Tagen hockte Jasu zu Hause herum und blies Trübsal. Dann fing er an, durch die Straßen zu wandern, und kam abends sonnengebräunt und staubig nach Hause. Kavita versuchte, ihn zu beruhigen. Immerhin hatten sie die Schulden bei dem Geldverleiher fast abbezahlt, und mit dem, was sie verdiente, und Vijays Lohn als Botenjunge kämen sie die paar Wochen über die Runden, bis Jasus Hand wieder geheilt war. Für Jasu war daskein großer Trost; er wurde nur noch missmutiger. Nach der ersten Woche nahm Kavita zum ersten Mal den unverkennbaren Geruch an ihm wahr. Sie versucht, nicht darauf zu achten. Im Grunde hat sie auch gar keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Tag für Tag steht sie früh auf, geht zur Arbeit, kommt nach Hause und kocht das Abendessen, um dann todmüde ins Bett zu fallen. Falls sie die Energie hat, versucht sie abends noch ein wenig Zeit mit Vijay zu verbringen, doch auch der ist in letzter Zeit übel gelaunt.
Sie überlegt, ob sie sich auf die Suche nach Jasu machen soll, aber sie weiß, dass er und Vijay Hunger haben werden, wenn sie nach Hause kommen. Eine Stunde später sind der Reis und das Kartoffel-Zwiebel- shaak fertig. Kavita spürt, wie ihr der Magen knurrt. Sie hat seit über acht Stunden nichts mehr gegessen. Sie steckt sich den einen oder anderen Bissen in den Mund, aber sie bringt es nicht über sich, ohne ihren Mann und ihren Sohn richtig zu essen. Vijay lernt bestimmt noch mit einem Schulfreund, wie so oft in letzter Zeit. Aber Jasu müsste längst zu Hause sein. Ihre Unruhe steigert sich zu Sorge und schlägt dann rasch in Angst um. Kurz entschlossen deckt sie das Essen ab
Weitere Kostenlose Bücher