Geheimnis des Feuers
gar nicht gefragt hätten.
Wenn alle es vergaßen, wäre es das Beste. Wenn alle es vergaßen, nur sie nicht. Denn sie konnte nicht vergessen. Wenn sie es vergaß, würde Maria verschwinden. Und das durfte niemals geschehen. Niemals, solange sie lebte.
Es war schon später Nachmittag geworden, als Sofia Lydia auf dem Weg entdeckte. An ihrer Seite lief Alfredo. Sofia erhob sich von der Bank und winkte. Alfredo sah sie zuerst. Er zog an Lydias Arm und zeigte auf Sofia. Im selben Augenblick bemerkte Sofia, dass Lydia ein Kind auf dem Rücken trug. Sie hatte ganz vergessen, dass Lydia ein Kind bekommen würde, und sie spürte, wie ihr ganz heiß wurde vor Freude. Ein neues Kind. War es ein Bruder oder eine Schwester?
Sie umarmten einander. Lydia streichelte sie, Alfredo hielt sich zurück. Er war verlegen. Dann nahm Lydia das Kind vom Rücken und hielt es Sofia entgegen, die sich wieder hingesetzt hatte.
»Dein Bruder«, sagte Lydia und lächelte. Sofia merkte, dass Lydia mehrere Zähne verloren hatte. Sofia nahm ihren Bruder entgegen. Er schlief und war kaum mehr als einen Monat alt. Wie lange war es eigentlich her, seit sie Lydia zuletzt gesehen hatte? Für sie flössen alle Tage ineinander. Sie hielt ihren Bruder in den Armen und spürte eine große Freude. »Wie heißt er?«, fragte sie.
»Faustino«, sagte Lydia. »Sein Papa kommt, wenn es Essen gibt.«
Endlich würde sie die Antwort bekommen, auf die Sofia gewartet hatte. Jetzt wusste sie, dass sie bald Lydias neuen Mann kennen lernen würde. Es war ein wichtiger Augenblick. Sie merkte, dass sie nervös war. Aber gleichzeitig froh. Jetzt würde alles viel leichter werden, weil ein Mann im Haus war.
Lydia begann das Mittagessen vorzubereiten. Sofia saß auf der Bank und hielt ihren Bruder in den Armen. »Dass du wiedergekommen bist«, sagte Lydia immer wieder. »Dass du wiedergekommen bist!« Im nächsten Augenblick wurde sie ernst. Sofia wusste, dass Lydias Stimmung zwischen Freude und Ernst schneller wechseln konnte als bei anderen Menschen. »Aber wie wirst du fertig werden?«, fragte sie. Sofia verstand nicht, wie sie das meinte. »Ich kann wieder gehen«, sagte sie. Lydia schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Sofia merkte, dass sie Magenschmerzen bekam. Was hatte Lydia gemeint? Warum sollte sie nicht fertig werden? Den Gedanken konnte sie nicht mehr zu Ende denken.
Plötzlich kam ein Mann auf sie zu. Unbemerkt hatte er sich aus den Schatten hinter ihrem Rücken genähert. Im selben Augenblick lief Alfredo in die Hütte. Der Mann war groß und kräftig. Sofia roch an seinem Atem, dass er Tontonto (Hausgebrannter Schnaps.)getrunken hatte. Er sah sie mit einem so durchdringenden Blick an, dass Sofia die Augen niederschlug.
»Wer ist das denn?«, fragte er.
Sofia sah aus den Augenwinkeln, wie er Lydia zuwinkte, sie solle sich vom Feuer erheben, wo sie kauerte und Essen bereitete.
»Das ist meine Tochter Sofia«, antwortete Lydia. Sofia erkannte ihre Stimme nicht wieder. Sie war anders, schwächer. Es war, als ob sie jemand geschlagen hätte. Der Mann machte einen Schritt auf Sofia zu. »Die war das also, die so blöd gewesen ist, auf eine Mine zu treten«, sagte er. Sofia wurde eiskalt.
»Und jetzt ist sie wiedergekommen«, sagte der Mann. »Jetzt ist sie hier und will zu essen haben. Mit den Krücken wird sie ihr ganzes Leben gehen müssen.« Der Mann verschwand für einen Augenblick auf der anderen Seite der Hütte.
»Kümmre dich nicht darum, was er so redet«, sagte Lydia leise. »Er redet viel, wenn er getrunken hat. Sonst ist er nett.«
»Ist das mein Stiefvater?«, fragte Sofia. Lydia nickte. Dann kehrte sie eilig ans Feuer zurück, damit das Essen nicht anbrannte. Alfredo guckte vorsichtig aus der Türöffnung der Hütte.
Sofia sah, dass er sich vor seinem Stiefvater, Faustinos Vater, fürchtete.
Sie bekam immer mehr Magenschmerzen. Warum hatte Lydia einen bösartigen Mann gewählt? Warum hatte er sich nicht gefreut, als er sie sah? Warum hatte er gesagt, sie sei so blöd gewesen, auf die Mine zu treten? Aber sie versuchte auch zu denken, dass es wahr war, was Lydia gesagt hatte. Er war nur bösartig, wenn er Tontonto getrunken hatte. Nur dann fürchtete sich Alfredo vor ihm.
Aber im tiefsten Innern ahnte sie, dass es nicht so war. Viel später, viele Mondumläufe später, wusste sie, dass sie schon damals, an diesem ersten Abend, erkannt hatte, dass sie hier nicht bleiben würde.
Als Lydias neuer Mann plötzlich aus den Schatten
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