Geheimnis des Feuers
vielen Autos und all die Menschen, die überall waren und die sie nicht kannte. Sofia wollte unter Menschen leben, die Namen hatten, die vielleicht nicht zu ihrer Familie gehörten, aber die jedenfalls ihre Freunde waren. Einmal vor langer Zeit, als sie noch auf der Flucht gewesen waren, hatte sie gedacht, eine Stadt sei etwas Aufregendes, etwas, was sie gern kennen lernen wollte, so wie sie sich danach gesehnt hatte, das Meer zu sehen. Aber jetzt wusste sie, dass ein Unterschied war zwischen dem Meer und der Stadt. Der Unterschied war in ihr. Die Stadt wollte sie verlassen. Aber das Meer wollte sie wieder sehen.
Sie erinnerte sich auch an die alte Frau, der sie auf ihrer Flucht begegnet waren. Sie, die sich eines Tages hingesetzt hatte und nicht mehr aufgestanden war. »Keiner von uns hat Beine, die dazu gemacht sind, die Stadt zu erreichen«, hatte sie gesagt. Trotzdem hatte Sofia sie erreicht. Aber nur um neue Beine zu bekommen.
Sie nahm das bisschen, was ihr gehörte, und setzte sich dann in die Türöffnung, um die Sonne untergehen zu sehen.
In allen Türen entlang des Ganges sah sie Köpfe und zusammengesunkene Gestalten. Es waren meistens alte Männer, kraftlos, blind, mit Körpern, denen ein Arm oder ein Bein fehlte. Sie wusste, dass viele von ihnen die Krankheit hatten, die Lepra heißt. Sofia dachte daran, dass sie immer hier bleiben mussten. Sie konnten nirgendwo hingehen, sie hatten keinen Ort, an den sie zurückkehren konnten.
Veronica brachte ihr zum letzten Mal einen Teller. Sofia aß und Veronica setzte sich neben sie in die Türöffnung.
»Wer wird nach mir hier wohnen?«, fragte Sofia. »Es kommt immer jemand«, antwortete Veronica. An diesem Nachmittag hatte Sofia über eine Sache nachgedacht. Jetzt fand sie es angebracht, es auszusprechen. »Wenn Hortensia wiederkommt«, sagte sie, »dann grüß sie von mir.«
Veronica schien sich nicht zu erinnern, wer Hortensia war. Aber plötzlich nickte sie.
»Hortensia«, sagte sie. »Ich hatte sie fast vergessen. Natürlich werde ich sie von dir grüßen, wenn sie wiederkommt. «
Die Dämmerung kam. Es wurde dunkel. An diesem Abend schlief Sofia früh ein, als ob es dann schneller Morgen werden würde, der Tag, an dem sie mit Doktor Raul nach Hause fahren konnte.
Am nächsten Tag verließ sie die Stadt. Doktor Raul hatte sie abgeholt. Es war das erste Mal, dass sie ihn ohne die weiße Arztjacke sah. Sein Auto war klein und alt. Die Stoßstange war mit Stahldraht befestigt, ein Scheinwerfer fehlte, und als Sofia sich ins Auto gesetzt hatte, wollte es nicht starten. Doktor Raul breitete resigniert die Arme aus. Dann fluchte er. Obwohl er böse aussah, musste Sofia lachen. Ein paar Jungen halfen ihnen das Auto anzuschieben. Sofia fand es komisch, dass ein Arzt, der bestimmt viel Geld hatte, so ein altes, schlechtes Auto fuhr.
Aber sie sagte nichts. Doktor Raul saß am Steuer und sang. Hin und wieder rief er anderen Autofahrern etwas zu, wenn er fand, dass sie sich falsch verhielten.
Als sie an einer roten Ampel hielten, drehte er sich um und sah sie an.
»Heute habe ich frei«, sagte er und lächelte. »Darum kann ich dich nach Hause fahren. Heute bin ich dein privater motorista.«
Sie verließen die Stadt. Sofia sah Äcker, auf denen Frauen gebeugt über ihren Hacken standen. Sie fühlte Sehnsucht danach, wieder Erde an den Händen zu haben. Eigentlich hatte sie Eust mitzusingen, wenn Doktor Raul seine Lieder summte. Aber sie traute sich nicht richtig. Deshalb sang sie lieber innerlich.
Auf einer Hügelkuppe hatten sie eine Reifenpanne. Plötzlich begann das Auto zu rütteln und Doktor Raul lenkte es an den Wegrand. Er stieg aus und ging um das Auto herum. Durch das Autofenster sah Sofia, dass er gegen eins der Hinterräder trat.
»Weißt du, wie man bei einem Auto den Reifen wechselt?«, fragte er. »Ich habe keine Ahnung.« Sofia schüttelte den Kopf.
Obwohl das Aus- und Einsteigen für sie mühsam war, öffnete sie die Tür. Sie stützte sich mit einer Krücke ab und stieg aus ohne hinzufallen. Währenddessen hatte Doktor Raul angefangen, im Kofferraum nach dem Reservereifen und dem Werkzeug zu suchen, das er brauchte. Sein weißes Hemd war schon schmutzig geworden. »Ich kann Menschen operieren«, sagte er. »Aber ich kann keinen Autoreifen wechseln.«
»Ich kann weder operieren noch Reifen wechseln«, sagte Sofia. Dann hob sie eine Krücke und winkte einem Auto, das gerade an ihnen vorbeifahren wollte. »Was machst du?«, fragte Doktor
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