Geheimnis des Feuers
war.
Sie war in die Stadt zurückgekehrt, weil sie nicht im Dorf bei ihrer Mutter bleiben konnte. Und der Einzige, an den sie sich wenden konnte, war der Arzt, der sie gesund gemacht hatte.
Sofia ist immer noch meine Patientin, dachte er. Und er konnte sie nicht einfach auf der Straße lassen. Dort würde sie bald untergehen. Dort würde sie schikaniert und gejagt werden, geschlagen und missbraucht von den anderen Kindern und Erwachsenen, die auf den Straßen lebten. Ihre Krücken würden gestohlen werden und ihre Beine auch. Sie würden irgendwo anders in der Stadt auftauchen, auf einem Markt, wo sie zum Verkauf angeboten werden würden. Sofia würde hungern und sie würde krank werden, Krätze, Husten, Malaria könnte sie bekommen.
Eines Tages würde sie tot unter einem schmutzigen Pappkarton liegen. Niemand würde wissen, wer sie war. Sie würde in einer der großen Gruben begraben werden, die regelmäßig am Rand der Friedhöfe ausgehoben wurden, Armengräber, in die die Körper geworfen wurden, ohne Särge, ohne Priester, ohne irgendetwas. Ungefähr wie man Abfall morgens in die Tonne vor seinem Haus wirft.
Er dachte an seine Frau Dolores und fragte sich, was sie sagen würde, wenn er mit Sofia nach Hause kam. Aber er hatte keine andere Wahl.
»Du kommst mit mir nach Hause«, sagte er, »und dann entscheiden wir, was zu tun ist.«
Sie erhob sich ohne ein Wort und setzte sich auf den Rücksitz.
Diesmal startete das Auto, ohne dass es angeschoben werden musste.
Doktor Raul wohnte in einem eingeschossigen Haus. Das Haus hatte einen kleinen Garten. Versteckt hinter einigen Bäumen ganz hinten im Garten war ein kleiner Schuppen, in dem sein Nachtwächter Sulemane wohnte. Oft, wenn Doktor Raul Probleme hatte, sprach er mit Sulemane, der alt und klug war. Er war kein guter Nachtwächter, denn er lag nachts, wenn er eigentlich hätte wachen sollen, bei der Pforte und schlief. Mehrere Male war es passiert, dass Doktor Raul ihn wecken musste, wenn er spät mit dem Auto heimkam. Dolores war böse auf ihn, weil er Sulemane nicht hinauswarf und einen Nachtwächter einstellte, der sich wenigstens wach hielt. Aber Doktor Raul wollte nicht auf Sulemane verzichten. Nicht zuletzt, weil er ihm oft kluge Ratschläge gab.
Als sie nach Hause fuhren, überlegte er, dass er mit Sulemane über Sofia sprechen sollte. Vielleicht wusste er, was nun zu tun war.
Doktor Raul ließ Sofia im Auto sitzen, während er ins Haus ging und Dolores erzählte, dass er eine seiner Patientinnen mitgebracht hatte.
»Sie hätte doch wohl im Krankenhaus schlafen können«, sagte Dolores. »Warum musstest du sie mitbringen?«
»Sie braucht ein Bad«, sagte Doktor Raul. »Sie ist so schmutzig. Ich glaube, du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen langen Weg sie auf ihren Krücken zurückgelegt hat.«
Dolores sagte nichts mehr. Doktor Raul ging hinaus und holte Sofia. Als Dolores sie sah, war sie nicht mehr so gereizt. Das Mädchen war wirklich sehr schmutzig. Und es sah müde und traurig aus.
»Armes Kind«, murmelte Dolores. »Warum muss das Leben nur so schwer sein?«
Sofia bekam zu essen. Doktor Rauls Kinder musterten sie abwartend.
Sofia war verlegen und schlug die Augen nieder. Das Essen schmeckte ungewohnt. Aber sie hatte großen Hunger.
Sie war es nicht gewohnt, mit einem Eöffel zu essen. Normalerweise aß sie mit den Fingern. Aber sie dachte, es wäre das Beste, wenn sie sich genauso verhielt wie die anderen am Tisch.
Nach dem Essen ließ Dolores Badewasser ein. Als Sofia ins Bad kam, wurde sie ganz still. Noch nie hatte sie ein Badezimmer gesehen. Es war größer als die ganze Hütte im Dorf außerhalb von Boane. Glänzend und blank, mit fließendem Wasser, elektrischem Licht, Handtüchern, duftenden Seifen. Nirgends sah sie ein Feuer. Und trotzdem war das Wasser warm. Dolores zeigte ihr, was sie tun sollte, und ließ sie allein. Sofia zog sich aus, schnallte die Beine ab und hievte sich über den Rand der Badewanne, hinunter in das warme Wasser. Ihr schien, dass sie noch nie etwas so Schönes erlebt hatte. Sie schloss die Augen und dachte ans Meer, das sie einmal gesehen hatte. Das Salzwasser war nicht so warm gewesen. Trotzdem stellte sie sich vor, sie läge im Meer und schaukelte auf den Wellen. Ohne dass sie es merkte, schlief sie ein. Als Dolores ins Badezimmer schaute, schlief Sofia. Ihr Kopf ruhte an dem gekachelten Rand. Dolores betrachtete sie. Die Beinstümpfe waren deutlich im Wasser zu sehen. Dolores
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