Geheimnis des Feuers
dass Lydia eingeschlafen war. Sofia sah in die Flammen. Und jetzt traten alle Gesichter deutlich hervor. Da war Hapakatanda. Plötzlich konnte Sofia sich selbst als ganz kleines Kind sehen. Sie wurde hoch in die Luft geworfen und Hapakatanda zeigte ihr die Sonne. Da war Muazena, da war Maria. Sofia dachte, vielleicht war es gar nicht so wichtig, ob man lebendig oder tot war. Man gehörte auf jeden Fall zur selben Familie.
Jetzt verstand sie das Geheimnis des Feuers. Dort konnte sie alle wieder sehen, die zu ihr gehörten. Gleich, ob sie noch lebten oder tot waren, gleich, ob sie in der Nahe oder irgendwo weit weg wohnten. Im Feuer war alles bewahrt.
Sie wusste nicht, wie lange sie sitzen blieb. Mehrere Male legte sie Holz nach, damit das Feuer erneut aufflammte.
Es war der letzte Abend, dass sie an diesem Feuer saß. Frühmorgens würde sie aufbrechen. Und am Abend würde sie ihr erstes eigenes Feuer entzünden. Es war ein großer Augenblick, ein wichtiger Augenblick. Sie betrachtete ihre Beine, ihre Freunde. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich, viele Tage, viele Mondumläufe.
Am nächsten Morgen stand sie früh auf. Lydia war schon wach. Verlegen sagten sie einander draußen vor der Hütte Lebwohl.
»Wir leben im selben Dorf«, sagte Sofia. »Zwischen uns ist kein großer Abstand.«
»Trotzdem fühlt mein Herz es so, dass du uns jetzt verlässt«, sagte Lydia. »Ich brauche Zeit, um mich daran zu gewöhnen.«
Zum Abschied gab sie Sofia einen Korb mit Tomaten. Sofia trug ein Bündel auf dem Kopf. Es war schwer das Gleichgewicht zu halten, weil sie gleichzeitig darauf achten musste, wo sie ihre Krücken aufsetzte. Aber es ging, wenngleich es einige Zeit dauerte.
Als sie ankam, sah sie als Erstes ein Schild, das am Baum neben der Hütte hing. Nähatelier. Besitzerin: Sofia Alface. Sie musste das Bündel vom Kopf nehmen und das Schild anschauen. Es glänzte im Sonnenlicht.
Sofia Alface, dachte sie. Das bin ich. Niemand anders. Nur ich.
An der Nähmaschine saß ein Junge. Er kam ihr entgegen und half Sofia das Bündel zu tragen. Sofia betrat ihr neues Haus. Fernanda hatte geputzt, alles war sauber und ordentlich gefegt. Sofia setzte sich auf das knarrende Bett und sah sich um. Außer dem Bett gab es nur noch zwei Stühle und einen wackligen Tisch. Aber das Dach war in Ordnung, es regnete nicht herein. Und die Strohwände mussten erst im nächsten Jahr wieder gerichtet werden. Das ist Sofia Alfaces Haus, dachte sie. Sie, die Totios Nähmaschine übernommen hat.
Sie ging hinaus und setzte sich an die Maschine. Sie hob die Holzhaube ab. Dann holte sie eine Garnrolle hervor, befestigte sie und leckte am Fadenende. Schon beim ersten Versuch gelang es ihr, den Faden in das Nadelöhr einzufädeln.
Jetzt war sie bereit. Jetzt konnte sie mit der Arbeit anfangen. Sofort begann sie sich Sorgen zu machen, es könnten keine Kunden kommen.
Aber sie kamen. Und der Erste war José-Maria. Als Sofia ihn auf dem Weg entdeckte, war sie fast verlegen. Sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Vielleicht fand er, dass sie viel zu jung war, um eine eigene Nähmaschine zu besitzen?
Aber José-Maria war wie immer. Er schob sich die Brille in die Stirn und nickte ihr zu.
»Ich habe eine Hose, die muss geflickt werden«, sagte er. »Aber ich brauch sie schon morgen wieder.«
Er gab ihr ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Sofia nahm das Papier ab und breitete die schwarze Hose aus.
Sie sah, dass ein Saum aufgegangen war. Das war leicht zu reparieren.
»Ich kann es sofort machen«, sagte sie.
»Es reicht, wenn sie morgen fertig ist«, sagte José-Maria. »Bin ich dein erster Kunde?«
Sofia nickte und merkte, dass sie rot wurde.
»Ich glaube, du wirst es schaffen, Sofia«, sagte er. »Vergiss nur nicht, dass du auch weiter zur Schule gehen musst. Wenigstens so lange, bis du schreiben und rechnen kannst. Ich werde mit Philomena sprechen. Jeden Tag ein paar Stunden.«
Sobald er gegangen war, brachte Sofia seine Hose in Ordnung. Als sie die Maschine zu treten begann, hatte sie Angst, sie könnte ihr nicht gehorchen. Vielleicht vermisste sie Totio? Aber nichts geschah, der Faden lief mit und die Nadel stach in den Stoff, wie sie es sollte. Als José-Marias Hose fertig war, konnte sie es nicht lassen, die Maschine zu streicheln, genau wie Totio es getan hatte.
Der Junge, der die Nähmaschine in der Nacht bewacht hatte, saß jetzt im Schatten eines Baumes. Die ganze Zeit betrachtete er Sofia. Als sie ihn ansah, wich
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