GEHEIMNISSE DER NACHT
echt, sie hätte schwören können, sie auf ihrem Gesicht zu spüren – kühlte ab.
Morgan De Silva blinzelte sich den Traum aus den Augen. Sie sah sich nicht länger durch die großen dunklen Augen eines kleinen Jungen ein Zigeunerfeuer an. Sie saß auf dem Fußboden eines staubigen Dachbodens und starrte auf die vergilbten Seiten eines handgeschriebenen Tagebuchs. Das Leder des Einbands war mit dem Alter butterweich geworden. Die Vision, die dieses Spinnennetz aus Worten auf den Seiten gewoben hatte, war sehr lebendig gewesen. Sie war fast … Wirklichkeit. So wirklich, als sei sie selbst in diesem Zigeunerlager in der Vergangenheit gewesen, statt hier an der Küste von Maine im Frühjahr 1997.
Morgan blätterte langsam um, begierig darauf, weiterzulesen …
Das Klingeln des Telefons drang aus weiter Ferne zu ihr und hinderte sie daran. Mit einem ergebenen Seufzen schloss sie das große Buch und legte es vorsichtig in die alte Schranktruhe, zurück auf einen Haufen anderer, die genauso aussahen. Als sie den Deckel der Truhe schloss, knarrten die Scharniere, und eine winzige Staubexplosion stob ihr ins Gesicht. Sie rieb ihre Hände aneinander, dann an ihrer Jeans, und blies die Kerzen aus, die ihre einzige Lichtquelle im Raum gewesen waren. Schließlich eilte sie die schmale, steile Dachbodentreppe hinab.
Sie hatte nicht erwartet, etwas anderes als Spinnweben und Staub dort oben zu finden. Das heruntergekommene Haus näher zu untersuchen war nur eine neue Art Zeitvertreib, keine Neugierde. Wenn ihre eigene Arbeit irgendwie fortgeschritten wäre, sie hätte sich nie die Mühe gemacht, in dem alten, baufälligen Haus herumzustöbern.
Und das wäre ein schlimmer Fehler gewesen.
Sie rannte die Treppe zum Flur hinab, zwischen Wänden, an denen der Putz abblätterte und die Latten darunter hervorkamen, bis zum nächsten Treppenabsatz. Diese Treppe war breiter, aber nicht besser erhalten als der Rest des Hauses. Der dritten Stufe von oben fehlte ein Brett, über das sie auf dem weiteren Weg nach unten automatisch hinwegtrat, während das Telefon weiter klingelte.
Wenn es noch ein Anwalt oder ein weiterer Geldeintreiber war, dachte sie atemlos, würde sie sich auf die Jagd machen und sie alle umbringen.
Die breite Treppe führte in ein riesiges Zimmer, das früher, vor einem Jahrhundert oder so, prächtig gewesen sein musste. Jetzt war es mit nichts weiter gefüllt als herzzerreißenden Echos und einem Kabelgewirr, das aus der gewölbten Decke ragte, wo einst ein funkelnder Kronleuchter gehangen haben musste. Hinter diesem Zimmer und einigen Türen lag ihr Zimmer. Ihr … Büro . Wenigstens für den Augenblick. Aber nur, bis sie ihr Vermögen zurückgewonnen hatte und triumphierend nach L.A. zurückgekehrt war.
Also etwa genau das Gegenteil von der jämmerlichen Abreise aus der Stadt.
Ihr Herz klopfte vor Anstrengung, als sie es so weit geschafft hatte, sie rang nach Atem, und außerdem war ihr schwindelig. Sie drückte eine Hand auf ihre Brust. Es war lächerlich für eine Zwanzigjährige, so schnell zu ermüden, aber so war es eben. Sie war nie gesund gewesen, und das würde sie auch nie sein. Aber wenigstens hatte ihr Zustand sich noch nicht verschlechtert. Bald würde es so weit sein. Und sie hatte doch noch so viele Dinge zu erledigen.
Endlich hob Morgan das Telefon ab, das genau so veraltet war wie der Rest des Hauses. Der Hörer wog wenigstens ein Kilogramm, schätzte sie, und die Drehscheibe schien ihren gewöhnlich hoch technisierten Geschmack verspotten zu wollen.
Falls ihr „Hallo?“ verärgert klang, dann, weil sie es kaum abwarten konnte, mehr von den Tagebüchern auf dem Dachboden zu lesen, und mehr über ihren Verfasser herauszufinden. Sie mochte kurz davorstehen, zuzugeben, selbst eine untalentierte Lohnschreiberin zu sein, aber eine gute Schreibe erkannte sie immer noch, und was sie bisher dort oben gelesen hatte, war gut geschrieben. So gut, dass es wehtat.
„Morgan? Wieso hat das so lange gedauert? Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“
Ihr Ärger verflog, als sie David Sumners vertraute Stimme hörte. Ihr Onkel ehrenhalber – auch wenn sie ihn schon lange nicht mehr so nannte – war die einzige Person, die sich nicht von ihr abgewendet hatte, als sie innerhalb weniger Stunden vom verwöhnten reichen Mädchen zum mittellosen Waisenkind geworden war. Er war außerdem die einzige Person, von der sie zurzeit gerne etwas hörte.
„Hey, David“, sagte sie, „ich war nur am
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