GEHEIMNISSE DER NACHT
wünschte, er würde zurückkommen.“ Entschlossen packte Maxine den Türknauf. „Zum Teufel mit allem, ich gehe hinterher.“ Gerade als sie die Tür aufgerissen hatte, kam Lou außer Atem die Treppe hinauf.
Es fiel ihr schwer, ihm nicht um den Hals zu fallen, dafür sah sie ihn lange an. Sie konnte keine Schäden entdecken. „Hast du ihn erwischt?“
„Er war schon lange weg. Ich habe ihn nicht einmal mehr gesehen.“
„Verdammt.“
Lou ließ sich auf einen Hocker sinken, nur um sofort wieder aufzustehen, als Morgan De Silva in der Küche auftauchte. Maxines Blick wanderte direkt zu ihrem Hals, und als sie den schwarzen Rollkragen entdeckte, warf sie Lydia einen triumphierenden Blick zu, den Lydia aber nicht registrierte. Ebenso wie Lou starrte sie Morgan De Silva an, als würde sie gerade einen Geist anschauen.
Mit einem Stirnrunzeln wandte sich jetzt auch Max der Frau zu. Dann blinzelte sie und starrte. „Mein Gott …“
„Wer sind Sie? Was hat das zu bedeuten?“ Morgan konnte ihre Augen nicht von Maxine lassen.
„Ihr zwei seht fast genau gleich aus!“, bemerkte Lou, als glaubte er, niemand sonst hätte es bemerkt.
Nein, sehen wir nicht, dachte Maxine. Morgan De Silva war blass wie ein Gespenst, so dünn, dass sie schon knochig war, und ihre Haare waren lang, endlos lang, und vollkommen glatt und seidig. Maxine war kein Klappergestell. Ihr Haar war kürzer und lockte sich, wenn sie es wachsen ließ. Und sie hatte Farbe. Wenigstens genug, um sie von einer Leiche zu unterscheiden. Aber von diesen Unterschieden einmal abgesehen … diese Frau könnte ihr Zwilling sein.
Maxine ließ sich auf einen Hocker sinken, und das Wort „Zwilling“ spulte sich immer wieder in ihren Gedanken ab. Lieber Gott, war das möglich?
„Sie sind Morgan De Silva“, sagte Lou. Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung.
„Ja. Aber ich verstehe nicht, was das alles soll. Warum … was …?“
„Ms. De Silva, bitte, das ist für uns genauso ein Schock wie für Sie“, erklärte Lou langsam. Noch immer hatte er sich nicht gesetzt. Morgan De Silva stand ebenfalls, auch wenn sie aussah, als würde es sie nicht mehr lange auf den Beinen halten. Verdammt, Maxine fragte sich, wie diese dürren Beinchen überhaupt irgendetwas tragen konnten, schon gar keinen ganzen Menschen. Selbst einen derart klapprigen wie sie.
Wie aufs Stichwort gaben ihre Knie nach. Lou fasste sie beherzt an den Armen, wie es seine Art war. Nicht bedrohlich, vorsichtig. „Kommen Sie, setzen Sie sich“, sprach er beruhigend auf sie ein.
Seinen Blick, der jetzt auf sie gerichtet war, konnte Maxine nicht deuten. Wollte er, dass sie etwas sagte, oder wollte er nur sehen, ob es ihr gut ging. Vielleicht ein bisschen von beidem. Doch ihr fehlten die Worte. Es kam nur selten vor, dass sie sprachlos war.
Mit einem fast unmerklichen Nicken übernahm Lou die Führung. „Ich bin Lou Malone“, wendete er sich an Morgan De Silva. „Ich bin ein Cop aus White Plains, New York. Das hier ist Maxine Stuart, und da drüben ist Lydia Jordan. Freunde von mir.“
Mit einem klaren Blick fixierte sie Maxine. „Bist du auch ein Cop?“
„Privatdetektiv“, sagte Maxine.
Morgan überlegte. „Bist du adoptiert?“
„Ja. Und du?“
Sie nickte. „Geburtstag?“
„Vierter Mai neunzehnhundert…“
„…siebenundsiebzig.“ Morgan hob langsam den Kopf.
Lydia stand auf. Max bemerkte es mit dem Teil ihres Gehirns, der noch in der Lage war, etwas anderes wahrzunehmen als die Frau, die vor ihr saß.
„Lydia?“, fragte Lou.
„Das ist Privatsache, Lou. Sie sollten allein sein.“
Lou nickte und legte Maxine eine Hand auf die Schulter. „Wir gehen am Wasser spazieren. Schrei, wenn du uns brauchst.“
Sie nickte, ohne wirklich aufzunehmen, was er gesagt hatte. Als die Tür sich geschlossen hatte, war sie allein mit dieser seltsam blassen zerbrechlichen Frau, die ihr Zwilling sein könnte. Die vielleicht ihr Zwilling war. „Ich habe echt Schwierigkeiten, das in meinen Kopf zu bekommen. Ich meine, ich wusste immer, ich bin adoptiert. Aber niemand hat sich je die Mühe gemacht, mir zu verraten, dass irgendwo auch noch eine Zwillingsschwester rumläuft.“
Völlig verwirrt starrte Morgan sie an. „Du meinst, dieser Überraschungsbesuch ist nicht der Höhepunkt einer lang angelegten Suche?“
Verdammt, sie klang ein wenig feindselig. „Nein, der ist überhaupt kein Höhepunkt von irgendwas. Bis ich dein Gesicht gesehen habe, hatte ich keine
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