Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
Verdrängungsmechanismen, die typisch waren für den Charakter Heß’.
Auch für Lehren im Grenzbereich menschlicher Vernunft hatte Heß immer schon eine Vorliebe gehabt. Zur Astrologie, die er mit seinem Mitarbeiter und Freund Ernst Schulte-Strathaus betrieb, gesellten sich nach und nach andere obskure Leidenschaften: Wünschelrutengänger, Pendler, Traumdeuter und Hellseher gaben sich beim Stellvertreter bald die Türklinke in die Hand.
Heß war natürlich durchdrungen vom Antisemitismus. Die Frage ist nur: Wie weit ging dieser Antisemitismus? Ging er tatsächlich so weit, dass man sagen kann, er hätte auch der physischen Vernichtung der Juden zugestimmt? Das wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass er für die Ausgrenzung der Juden plädierte, dass er die Juden für schuldig hielt an den Irrungen der deutschen Gesellschaft in den 20er-Jahren und dass er die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« ebenso wie Hitler als Ursache allen Übels ansah.
Manfred Görtemaker, Historiker und Heß-Biograf
Zudem litt Heß jetzt immer häufiger unter Magenschmerzen, Gallen- und Nierenkoliken sowie Herzbeschwerden. Weder die Schulmedizin noch Homöopathen und Wunderheiler, die der notorische Hypochonder konsultierte, konnten ihm Linderung verschaffen. Alfred Rosenberg berichtete, dass sich Heß auf den Ratschlag eines dieser »Heilkundigen« hin sämtliche Zähne des Oberkiefers habe ziehen lassen, um einer vermuteten Infektion zu begegnen. Eine Besserung stellte sich jedoch auch dadurch nicht ein.
Es liegt auf der Hand, die zunehmenden Beschwerden und Wehwehchen psychosomatisch zu deuten. Einige Autoren diagnostizieren ein »hysterisches Fluchtsyndrom«, gingen sie doch einher mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust des Stellvertreters beim »Führer«. Spätestens seit 1936, als Hitler auf den Krieg hinarbeitete und sich zunehmend Fragen der Aufrüstung und Außenpolitik zuwandte, sah sich der biedere Parteiarbeiter Heß mehr und mehr an den Rand gedrängt. Zu wichtigen politischen Besprechungen zog man ihn nicht mehr hinzu, stattdessen war Heß’ Stabschef Martin Bormann zugegen. Dieser emanzipierte sich immer mehr von seinem Dienstherrn und trat nach dessen Englandflug schließlich sein Erbe an.
»Reisender Repräsentant des Regimes«: Anlässlich der Eröffnung der »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse tanzen BDM-Mädchen vor dem Reichsminister, Juni 1935.
Ullstein Bild, Berlin (Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl)
Heß blieb die Rolle als reisender Repräsentant des Regimes: Sammelaufrufe für das Winterhilfswerk, Kaffeekränzchen mit BDM -Grazien für die Wochenschau, Verleihung von Mutterkreuzen an fruchtbare »Volksgenossinnen«, Ehrung von Weltkriegsveteranen – die Häufigkeit solcher Termine wuchs mit dem schleichenden Verlust von Hitlers Gunst. Der nannte seinen Stellvertreter bei den seltenen Treffen immer noch freundschaftlich »mein Hesserl« und »Rudi«, doch im Kreis der anderen Paladine sprach er Klartext: »Mit Heß«, so gab Albert Speer einen Stoßseufzer Hitlers wieder, »wird jedes Gespräch zu einer unerträglich quälenden Anstrengung. Immer kommt er mit unangenehmen Sachen und lässt nicht nach.«
»Populärster Nazi«: Heß’ Beliebtheit im Volk machte sich das Regime für NS-Wohltätigkeitsorganisationen wie das Winterhilfswerk zunutze.
Ullstein Bild, Berlin (N.N.)
»Mein Hesserl«: Hitler gratuliert seinem Stellvertreter zu dessen 44. Geburtstag am 26. April 1938. Zu diesem Zeitpunkt war das einst enge Verhältnis längst abgekühlt.
Ullstein Bild, Berlin (Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl)
Je weiter Heß jedoch vom Platz an der Sonne verdrängt wurde, desto mehr suchte er nach einer Möglichkeit, sich mit einer spektakulären Aktion wieder bei seinem »Führer« in Erinnerung zu rufen. Als er drei Tage nach dem Beginn des Polenfeldzugs im September 1939 noch einmal in der Reichskanzlei weilte, bat er in einem Anflug von blindem Heroismus um die Erlaubnis, als Kampfflieger an die Front zu dürfen. Der »Stellvertreter des Führers« und Reichsminister, ein Mann von 45 Jahren – Hitler schaute ihn ungläubig an und erteilte ihm dann schroff ein Flugverbot für die Dauer von einem Jahr. Heß schlug die Hacken zusammen und verließ schweigend den Saal. Doch schon bald sollte er eine neue, sehr viel spektakulärere Chance wittern, die Gunst Hitlers zurückzugewinnen.
»Der dritte Mann im Dritten Reich«: Während der Reichstagssitzung am 1. September
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