Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
des Luftwaffenministeriums dem verdutzten Hamilton das Schreiben unter die Nase hielt. Was unterdessen zwischen Haushofer und Heß auf deutscher Seite und möglichen mysteriösen Mitspielern auf britischer Seite geschehen war, ist bis heute ungeklärt.
Der Botengang eines Toren
»Ich habe nichts anderes anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß« – mit diesen berühmten Worten hatte der neue britische Premierminister Winston Churchill am 13. Mai 1940 sein Amt angetreten und als Ziel seiner Politik gegenüber Nazi-Deutschland formuliert: »Sieg, Sieg um jeden Preis – Sieg trotz allen Terrors – Sieg, wie lang und hart die Strecke auch sein mag, denn ohne Sieg gibt es kein Überleben.« Wenn es auch in der Rückschau anders scheinen mag: Die harte Linie Churchills hatte damals nicht nur Befürworter, nicht zuletzt deshalb, da sein erstes Jahr als britischer Premier zu einer Aneinanderreihung von Niederlagen und Demütigungen für das Empire geriet. Frankreich war in nur vier Wochen überrannt worden, das britische Expeditionskorps hatte nur mit Mühe und Not vom Festland evakuiert werden können, auch Norwegen und Dänemark waren von den Deutschen im Handstreich erobert worden. Im Frühjahr 1941 dann sollte Rommels Afrikakorps die Briten aus der Cyrenaika vertreiben, und im April 1941 mussten sich die britischen Truppen auch in Griechenland der Wehrmacht geschlagen geben.
»Kette von Niederlagen und Demütigungen«: Winston Churchill besichtigt zu Silvester 1940 Bombenschäden in der Londoner Innenstadt.
Getty Images, München (J. A. Hampton/Hulton Archive)
So schien es wenig verwunderlich, wenn in Agentenberichten aus London nun immer häufiger von einer starken Oppositionsbewegung gegen Churchill die Rede war und davon, dass auch die Industrie immer deutlicher eine Verständigung mit Deutschland fordere. Die Versorgungslage in Großbritannien sei katastrophal, hieß es, die Stimmung in der Bevölkerung schlecht. Die City von London bestehe zu großen Teilen nur noch aus Ruinen, es regiere das blanke Chaos. Der Krieg, so die allgemeine Meinung, sei für Großbritannien nicht mehr zu gewinnen, sondern werde über kurz oder lang in den Ruin führen.
Wir wissen heute, dass Heß nicht nur nicht gut informiert war, sondern dass er durchaus auch desinformiert war.
Manfred Görtemaker, Historiker und Heß-Biograf
In deutschen Geheimdienstkreisen frohlockte man natürlich ob der Endzeitstimmung beim Kriegsgegner, doch die apokalyptischen Meldungen hatten einen Haken – sie waren zu großen Teilen gefälscht. Nach der Dechiffrierung des deutschen Enigma-Codes, mit dem Wehrmacht und deutsche Geheimdienste ihren Funkverkehr verschlüsselten, durch britische Experten hatten ab Mitte 1940 zahlreiche deutsche Spione in Großbritannien enttarnt werden können. Vom britischen Geheimdienst wurde nun ein Netzwerk von Doppelagenten aufgezogen, welche die deutschen Dienste fortan systematisch mit falschen Informationen versorgten – über Standorte und Truppenstärken von Army, Air Force oder Navy, aber eben auch über die angeblich brisante politische Lage in Großbritannien. Auch Heß dürften solcherart frisierte Berichte zugegangen sein, denn in mehreren Dokumenten ist davon die Rede, dass der Stellvertreter an Informationen über vorgeblich verhandlungsbereite Oppositionskreise ausdrücklich interessiert gewesen sei. So dürften es nicht zuletzt Meldungen dieser Art gewesen sein, die Heß darin bestärkten, nicht mehr auf Ergebnisse der Sondierungen Albrecht Haushofers zu warten, sondern selbst aktiv zu werden. Vom Spätherbst 1940 datieren erste Versuche von Heß, an ein Flugzeug zu gelangen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Flugpläne des Stellvertreters zu diesem Zeitpunkt bereits Gestalt angenommen hatten.
»Der Flug hatte mich wie eine fixe Idee gepackt«: Heß in der Kanzel einer Messerschmitt Me 110 – dem gleichen Modell, mit dem er seinen Englandflug antrat.
Ullstein Bild, Berlin (Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl)
Letztendlich ausschlaggebend für Heß’ Entschluss, persönlich nach Großbritannien zu fliegen, sei jedoch etwas anderes gewesen, so der Historiker Rainer F. Schmidt, der alle verfügbaren Unterlagen zu diesem Themenkomplex durchgearbeitet hat: eine gezielte Intrige des britischen Secret Service. Klare Beweise für diese These freilich fehlen – solange die Akten von MI 5 und MI 6 weiterhin gesperrt sind. Schmidt hat jedoch eine Reihe von Indizien zusammengetragen, die
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