Geheimnisvolle Beruehrung
die Kontrolle über deinen Verstand hast.« Er konnte die Schilde um sie nicht senken, denn sonst wäre sie selbst den Schwächsten ihrer Gattung hilflos ausgeliefert. »Sobald du deine Schilde wieder aufgebaut hast, gebe ich dich frei.«
Das war eine Lüge.
Er würde sie nie mehr gehen lassen.
3
Hier war es anders. Kein schneidend grelles Licht, das den Augen wehtat und Kopfschmerzen verursachte. Alles war sanft und unaufdringlich. Alles, bis auf den Mann, der sie hierher gebracht hatte. Der war hart und unbeugsam.
Wie schwarzes Eis.
Seine Worte prickelten ihr auf der Haut, ergaben manchmal einen Sinn und hatten ihn manchmal schon verloren, bevor sie den Weg durch das verschlungene Labyrinth in ihrem Kopf gefunden hatten. Das Labyrinth hatte sie selbst geschaffen, aber sie wusste nicht mehr, warum. Warum sollte sie sich selbst sabotieren? Warum sollte sie bewusst ihre eigenen Fähigkeiten beschneiden?
Nur deswegen hatte man sie so lange in dem weißen Zimmer festgehalten, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wann sie dort hineingekommen war oder wann sie das letzte Mal richtig geschlafen hatte. Wie Hammerschläge waren die blendend hellen Strahlen durch ihre Lider gedrungen, selbst wenn sie sich zusammengerollt und das Gesicht in den Armen verborgen hatte. Die Wärter hatten versprochen, das Licht auszuschalten, wenn sie das Labyrinth entwirren und wieder nützlich für sie werden würde, wenn sie bestimmte Dinge für sie tun würde.
In einem kurzen Moment der Klarheit begriff sie, dass eine so offensichtliche Weigerung jeglicher Kooperation eigentlich ein Todesurteil war. Was immer also ihre Fähigkeiten waren, sie war wichtig genug, dass sie am Leben erhalten wurde, wenn auch in Ketten und halb tot. Der letzte Versuch –
Das Labyrinth drehte sich und änderte erneut die Gestalt wie wohl tausend Mal am Tag, und die Gedanken waren nicht mehr zu fassen, zerfetzten das feine Gewebe aus Verstand und Erinnerung. Sie schloss die Finger noch fester um das Geländer, das sie davor bewahrte, in den Abgrund zu stürzen, atmete weiter und blinzelte die Lichtpunkte fort, die vor ihren Augen tanzten. Doch die Punkte verschwanden nicht, und verwundert begriff sie, dass es die Sterne am Nachthimmel waren.
Sie glitzerten so verführerisch, dass sie die Hände ausstreckte, um sie zu berühren. Doch die Sterne waren zu weit weg … und in ihrer Hand hielt sie nun ein Buch. Beinahe hätte sie den unerwarteten Gegenstand fallen lassen, doch eine Art Luftkissen bewahrte es davor, und ihr wurde klar, dass der Mann aus schwarzem Eis das Buch nie hätte in den Abgrund fallen lassen.
Im Dunkeln konnte sie die Schrift auf dem Umschlag nicht lesen, wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lesen konnte. Doch sie zog das Buch durch die Streben und drückte es an ihre Brust, als wäre es ein Schatz. Als sie sicher sein konnte, dass er sie nicht länger beobachtete, riskierte sie einen Blick auf den Mann.
Er war anders als die Gefängniswärter an dem Ort mit dem schmerzenden Licht. Sie hatten ihr Schmerzen zugefügt, doch er wäre vermutlich in der Lage, ihr die Kehle durchzuschneiden, ohne mit der Wimper zu zucken. Das sagte ihr derselbe Teil ihres Gehirns, der auch das Labyrinth geboren hatte, der Teil, den nur der Wille zu überleben antrieb. Welche Qualität das Leben hatte, war dabei egal – das Leben allein zählte. Nur brutaler Pragmatismus hatte sie lange genug am Leben erhalten, damit sie nun unter einem Sternenhimmel neben einem Mann stand, in dessen Augen ebenfalls Sterne leuchteten, kühl und weiß auf schwarzer Seide.
Ein Kardinalmedialer, flüsterte es aus tief verborgenen Erinnerungen, das sind die Augen eines Kardinalmedialen.
Sie …
Wieder drehte sich das Labyrinth, nahm dem Gedanken jegliche Gestalt und verwandelte ihren Verstand in ein buntes Kaleidoskop, in dem Millionen Bilder zersplitterten und durcheinandertaumelten, bis nichts mehr Sinn ergab und alle Schönheit aus Scherben bestand. Manchmal gab sie sich den faszinierenden Bildern stundenlang hin, ließ sich von ihnen in eine Welt ziehen, in der kein Licht mehr schmerzte und ihr Verstand kein Krebs ohne Schale war, so weich und so verletzlich. So schrecklich ausgeliefert zu sein, das tat weh.
Doch nun … schützte sie eine Schale.
Ungläubig tippte sie mental an den schwarzen Schild, der ihren Geist umgab. Nichts. Absolut gar nichts. Neugierig strich sie an der Oberfläche entlang, er »schmeckte« nach schwarzem Eis. Nach ihm. Nach dem
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