Gehetzte Uhrmacher
Kaliber 32 ACP ist relativ ungewöhnlich. Diese Patrone für Selbstladepistolen verfügt zwar über eine höhere Reichweite als die kleinere 22er, aber auch über deutlich weniger Wirkung als die durchschlagskräftigeren 38er- oder 9-Millimeter-Geschosse. Zweiunddreißiger werden daher oft als Damenwaffen bezeichnet. Der Markt dafür ist begrenzt, aber dennoch ziemlich groß. Falls man bei einem Verdächtigen eine Pistole dieses Kalibers fand, würde das vielleicht als Indizienbeweis gelten, dass es sich bei ihm um den Uhrmacher handelte, aber Cooper konnte nicht einfach alle Waffengeschäfte der Gegend anrufen und eine Liste all derjenigen anfordern, die in letzter Zeit diese Munition gekauft hatten.
Da aus der Schachtel sieben Patronen fehlten und das Magazin einer Autauga Mk II genau sieben Schuss fasst, tippte Rhyme auf diese Waffe, aber die Beretta Tomcat, die North American Guardian und die LWS-32 kamen ebenfalls in Betracht. Der Killer konnte jedes dieser Modelle bei sich tragen. (Sofern er überhaupt bewaffnet war, betonte Rhyme. Patronen ließen zwar darauf schließen , dass ein Verdächtiger eine Schusswaffe besaß oder mit sich führte, aber eine Gewähr boten sie nicht.)
Rhyme bemerkte, dass das Projektilgewicht 4,6 Gramm betrug; das war ausreichend, um aus kurzer Entfernung beträchtlichen Schaden anzurichten.
»An die Tafel, Grünschnabel«, befahl Rhyme. Pulaski schrieb gehorsam alles auf.
Das Buch, das er in dem Explorer gefunden hatte, trug den Titel Extreme Verhörtechniken und war von einem kleinen Verlag in
Utah veröffentlicht worden. Das Papier, die Druckqualität und die typographische Gestaltung – ganz zu schweigen von dem Schreibstil – waren drittklassig.
Der anonyme Autor behauptete, er sei Soldat der Special Forces gewesen, und beschrieb in seinem Buch Foltermethoden, die letzten Endes zum Tod führten, falls das Opfer nicht vorher gestand – zu einem Tod unter anderem durch Ertrinken, Strangulation, Ersticken oder Erfrieren in kaltem Wasser. Eine der Methoden beinhaltete, die Kehle des Opfers mit einem Gewicht zu beschweren, eine andere, ihm die Handgelenke aufzuschneiden und es verbluten zu lassen.
»Mein Gott«, sagte Dennis Baker schaudernd. »Dieses Buch dient ihm als Vorlage... Er will zehn Menschen auf diese Weise umbringen? Das ist doch krank.«
»Partikel?«, fragte Rhyme, der sich eher um die forensische Bedeutung des Buches sorgte als um den Geisteszustand des Käufers.
Cooper hielt das Buch über ein großes weißes Blatt Papier, schlug Seite um Seite auf und fuhr mit einem Pinsel darüber. Nichts fiel heraus.
Und natürlich gab es auch keine Fingerabdrücke.
Dann brachte der Techniker in Erfahrung, dass das Buch nicht über die großen Versandhändler und Ladenketten erhältlich war – man weigerte sich dort, es ins Programm zu nehmen. Es ließ sich jedoch problemlos über manche Internet-Auktionshäuser und eine Anzahl rechtsgerichteter paramilitärischer Organisationen beziehen, die alles im Angebot hatten, was man benötigte, um sich vor der Plage der Minderheiten zu schützen, vor allen Ausländern und sogar vor der amerikanischen Regierung. (In den letzten Jahren war Rhyme zu diversen Terrorermittlungen hinzugezogen worden; einige davon hatten mit Al-Qaida und anderen islamistischen Gruppierungen zu tun gehabt, ebenso viele aber auch mit einheimischen Anarchisten – eine Bedrohung, die seiner Ansicht nach von den Behörden des Landes weitgehend ignoriert wurde.)
Ein Anruf bei dem Verlag erwies sich als wenig hilfreich, was Rhyme nicht überraschte. Man sagte ihm, das Buch werde nicht direkt an die Endkunden verkauft, und falls Rhyme herausfinden wolle, welche Einzelhändler beliefert worden seien, möge er sich
gefälligst einen entsprechenden Gerichtsbeschluss besorgen. Das würde Wochen dauern.
»Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass jemand dieses Ding als Anleitung benutzt, um Menschen zu foltern und zu ermorden?«, rief Dennis Baker empört in das Mikrofon der Freisprechanlage.
»Tja, wissen Sie, so etwas können wir leider nicht verhindern«, sagte der Verlagsleiter und legte auf.
»Verflucht noch mal.«
Sie widmeten sich wieder den Beweisen und stellten fest, dass die Erde, das Laub und die Steinchen, die Pulaski vom Kühlergrill, den Reifen und den Außenspiegeln genommen hatte, keine besonderen Charakteristika aufwiesen. Die Partikel aus dem Laderaum des Geländewagens enthielten Sand, der dem Tarnmittel entsprach, das der Täter in der Gasse an
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