Gehirnfluesterer
darin geradezu von Schlüsselwörtern wie »wir«, »uns«, »unser«. 155 Mal kamen sie vor. »Wir müssen alle zusammenhalten«, war der Subtext. Eigentlich der Haupttext. Von der Mayflower bis zum
11. September – wir Amerikaner stellen uns der Zukunft Seite an Seite. Im Januar 2011 hielt er eine Rede zur Lage der Nation,
die ähnlich strukturiert war. Motto: »Wir werden uns nur zusammen vorwärtsbewegen.« Auch den historischen Bezug gab es. Er
sprach von einem »Sputnik-Moment unserer Generation« und erinnerte an das amerikanische Trauma im Kalten Krieg, als die Sowjetunion
1957 den ersten Satelliten überhaupt in den Weltraum schoss. Zentrales Thema waren die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. 35 Mal tauchte das Wort »Jobs« in der Rede auf.
Politiker und Verkäufer haben gute Gründe dafür, Empathie zu wecken und ihren Claim der Gemeinsamkeiten abzustecken. Denn
das wirkt. Je besser dies platziert ist, je bedeutungsvoller und größer die Gemeinsamkeit ist, desto eher lassen wir uns darauf
ein. Als ich einmal in Lexington in Kentucky Schuhe kaufen wollte, stieß ich zufällig auf einen Verkäufer, der in meiner Nachbarschaft
aufgewachsen war – 5000 Meilen weit weg in einer Ecke von West-London. Was für ein merkwürdiger Zufall. Selbstverständlich fühlte ich mich verpflichtet,
ihm Schuhe abzukaufen. Das tat ich auch. Ich kaufte sogar zwei Paar, obwohl sie mir genau genommen überhaupt nicht gefielen.
Und das wirkt nicht nur im Geschäftsleben. Vor kurzem saß ich auf einem Flug in die USA neben einem selbstbewussten jungen
Mann, der kein bisschen darüber beunruhigt war, dass er für das verbindlich auszufüllende Einreiseformular keine Adresse angeben
konnte. »Kein Problem«, sagte er. »Sie werden sehen.«
Da war ich mir nicht so sicher. In der Schlange am JF K-Airport stand ich hinter ihm und spitzte die Ohren. Würde er damit wirklich durchkommen? Und wenn ja, wie? Wie immer war der Ton
der Beamtin, als sie Fingerabdrücke nahm und ein Foto machte, ziemlich rau. Dann wollte sie mit seinem Formular weitermachen.Plötzlich sprach er sie auf ihren Namen an: »Meine Güte – Verronica mit zwei r! Das ist erstaunlich. Die einzige andere Person, die Verronica mit zwei r heißt, ist meine Mama. Das
ist ja gut!«
Die Beamtin strahlte. Sie meinte auch, das sei ein merkwürdiger Zufall. Und tatsächlich – noch nie sei sie auf eine andere
Verronica gestoßen! Sie stempelte seinen Pass. Gab ihn zurück. Das war ’s. Etwas Ablenkung, etwas Empathie, und er war durch.
Genau, wie er es angekündigt hatte.
Wellenlängen
Ich weiß, dass es da draußen Meister des Gedankenlesens gibt, denn ich bin selbst einem begegnet. In den höheren Rängen der
japanischen Kampfkunst gibt es eine Prüfung. Ein Mann kniet am Boden, die Arme an der Seite, die Augen verbunden. Ein anderer
steht hinter ihm mit einem erhobenen Samurai-Schwert. Wenn dieser sich entschließt, sein Schwert auf den knienden Mann fallen
zu lassen, wird er ihn schwer verletzen, vielleicht sogar töten. Es sei denn, der Schlag wird irgendwie abgewendet und der
Schwertträger entwaffnet.
Das scheint unter diesen Umständen ganz unmöglich. Aber das ist es nicht. Das gibt es wirklich: Es ist eine alte, makellos
choreografierte Bewährungsprobe, die in den abgelegenen Dojos Japans oder des Himalaya ausgetragen wird und der sich alle
Meister unterziehen müssen, auch diejenigen, die bereits weit über den Schwarzen Gürtel hinaus sind. Heutzutage ist das Schwert
Gott sei Dank aus Plastik. Aber es gab Zeiten, in denen das nicht der Fall war.
Ein alter Sensei, ein Lehrer, verriet mir das Geheimnis.
»Man muss seinen Geist völlig leeren. Man muss sich ganz und gar auf den Augenblick konzentrieren. Wenn einem das gelingt,
dann kann man Zeit riechen. Fühlen, wie ihre Wellen über die eigenen Sinne schwappen. Kleinste Schwingungen können über große
Entfernungen wahrgenommen und Signale abgefangenwerden. Oft scheint es so, als ob sich beide Kämpfer gleichzeitig bewegen. Aber das ist nicht der Fall. Es ist nicht schwierig.
Wenn man es übt, kann man es schaffen.«
Es gibt auch Empathie-Genies beim Hören, im Bereich der Sprache. Ich sprach mit einer Prostituierten, die eine über zwanzigjährige
Erfahrung in ihrem Geschäft hatte. Es war natürlich kein Geschäftsgespräch. Sie sagte mir, sie könne schon nach dreißig
Weitere Kostenlose Bücher