Gehwegschäden
Minutentakte ein mitdenkender Patient sein, das weiß Thomas, er denkt mit und sagt, was er will. Ultra jeht nich. Der Doktor is zwar spezialisiert auf Herzkreislauf, aber det Jerät ham wer nich, sagt die Hilfe. Kommse ersma zum Blutbild. Nein, beharrt der mitdenkende Patient, er möchte wenigstens zugleich die 24-Stunden-Messung und das EKG unter Belastung, okee, det Jerät hamwerda, die Kardiologie sehnwerspäter. Wat is denn noch mit Sie, Herr Blaschko?
Der alte Mann sieht bleich aus, er ringt nach Luft.
Der Doktor empfängt Herr Frantz, bitte.
Es ist ein Mann so alt wie Thomas, schlank, blondes Haar, weiße Jeans und schwarzes Hemd, Lesebrille auf der Nase. Er weist Thomas einen Platz an und verschwendet keine Zeit.
Ja was glauben Sie, was hier los ist? Was glauben Sie, was ich hier für Geschichten höre? Wissen Sie eigentlich, wo wir leben? Da stehen die Leute noch in der Tür, und ich seh schon, was los ist. Junge Männer, kaum fünfundzwanzig, reihenweise und schon runter auf der Bereifung. Weiß wie die Wand, fassen sich an die Brust, ich krieg ’n Herzkasper. Die haben nix, sind aber schon fertig nach nur drei Jahrn im Job. Werber, Banker, Regierungsbeamte, alle völlig ausgebrannt in dem Alter. Die Arbeitswelt, das is die Revolution, glaubense mir. Alle geknechtet, alle doppelt und dreifach ran, was sind Sie? Journalist? Die auch. Na denn. Sie sehn ja noch gut aus für Ihr Alter. Was wollen Sie? Langzeit? Lohnt nicht. Dafür ham wer keine Zeit. War ’n Scherz. Lassense sich ’n Termin geben. Wiedersehn.
Thomas verlässt die Hilfe und möchte frühstücken.
Vor dem Lokal City Yildiz am Rosenthaler Platz hat sich ein Trupp Arbeiter niedergelassen. Pizza & Pasta, Döner Kebap. Es scheinen Kroaten zu sein. Vielleicht auch Serben oder Bosnier. Sie trinken Cola und essen Döner. Abriss, schätzt Thomas dem Kalk und weißen Staub auf den Blaumännern nach, vielleicht Trockenbau. Nach Unrat sehen sie nicht aus, das würde er riechen, sie rauchen, während sie essen. Zeitarbeit, schätzt Thomas. Gleich neben dem Internetshop befindet sich die Vermittlungszentrale. Thomas geht ins Café St. Oberholz gegenüber und bestellt Latte Macchiato und ein Croissant mit Butter, er darf das vom Tresen aus gleich mitnehmen nach erfolgter Bezahlung. Funktion.
Thomas hat überlebt. Er trainiert wieder. Er boxt, spielt Schach. Er arbeitet, so gut es geht, sucht nach der Balance. Er möchte jetzt ein neuer Mensch werden, unter neuen Menschen sein in einer neuen Stadt.
Das Café St. Oberholz ist der Tempel des neuen Berlin, ein Bethaus der stolzen Prekarianer. So wie Thomas einer ist, ein Ritter, ein Prätorianer, die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht. Deshalb geht er hierher. Er nimmt sich vor, tagsüber in ein schönes, junges Café zu gehen statt abends in die Kneipe. Es ist ganz wunderbar, so neu; plötzlich sieht er die Stadt mit anderen Augen, ganz nüchtern. Er wusste gar nicht, wie schön das sein kann, aber hier nennen sie sich nicht Prekarianer. Hier nennen sie sich digitale Boheme. Hier sitzen sie an hohen Tischen auf einem Brett entlang der Wand vor ihren Laptops und konzentrieren sich. Sie sitzen in Sesseln und Sofas an Wohnzimmertischen, an ganz normalem Kaffeehausmobiliar und in einer orientalisch anmutenden Ecke mit bunten Kissen vor ihren Laptops und konzentrieren sich. Sie sitzen im ersten Stock an rustikalen Holztischen und einfachen Stühlen vor ihren Laptops und konzentrieren sich. Es sind Rotten von konzentrierten Einzelgängern. Manche Einzelgänger bilden kleine, konzentrierte Arbeitsgruppen. Sie sitzen vor weißen und schwarzen Notebooks, konzentrieren sich und konsumieren Latte Macchiatos, Tramezzini, Bruschette, Taormini, Kohlrabi-Creme-Suppe mit Curry und Holunder-Kiwi-Chili-Bionade wie am Fließband. Manchmal steht jemand auf, verlässt seine Konzentration und geht raus, eine rauchen.
Die Plätze unten mit Blick auf die Kreuzung und Übersicht in den Raum hinein sind die begehrtesten. Thomas stellt sich vor, wie sie vertieft sind in ein Projekt, einen Blog, ein Layout, eine Graphik oder eine Studienarbeit, wie sie kleine Essays schreiben, Kommentare und Grußbotschaften und das alles hinausschicken in die Welt. Wie sie twittern, gruscheln, sich durch die Straßen von New York und Paris klicken, sie befinden sich maustechnisch ja am Nabel der Welt, und Brosamen klauben für den Tag im virtuellen Viehmarkt; dazwischen hören sie mp3 und suchen nach witzigen Werbeclips. Ein Mann mit
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