Gehwegschäden
Frau mit ihrer Arbeit vollkommen überfordert war, weil sie im Alter von neununddreißig Jahren aus einer gewissen Neugier heraus zum ersten Mal in ihrem Leben arbeitete, selbstverständlich an einem eigenen Modelabel, was sich in ihrer Laune widerspiegelte, was sich natürlich auf Shandors Stimmung übertrug. Es hatte einige Male gebraucht, bis Thomas diese Nuancen in den kurzen, barschen Telefonsequenzen einordnen konnte, denn ein andermal war Shandor einfach nur übernächtigt und deshalb gereizt gewesen, oder er hatte Ärger mit seiner Frau bekommen, weil er bei der Übernächtigung gekokst hatte bis zum Umfallen. Dieses Mal musste es wieder die Kinderfrau sein, eine ältere polnische Dame, die in einer Art Leibeigenschaft in einem Zimmer der Zehlendorfer Villa Shandor lebte und 24 Stunden für Kind und Haus verantwortlich war, denn Thomas erinnerte sich daran, dass Shandor während des letzten Telefonats ganz außer sich gewesen war, weil ihr Mann in Polen einen Herzinfarkt erlitten hatte und die Kinderfrau Hals über Kopf abgereist war.
Shandor hatte also schon dreizehnmal angerufen, es musste wohl etwas Dringendes sein, von 9.02 Uhr bis 11.48 Uhr dreizehn Anrufe, Mannomann. Thomas rief ihn zurück.
Shandor grüßte nicht.
»Ich hab miese Laune.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort.
»Die Kinderfrau ist nicht da, und ich habe eine Frau, die mich um ein Uhr morgens anruft und verlangt, dass ich sofort nach Hause komme.«
»Das verstehe ich jetzt nicht ganz …«, sagte Thomas.
»Ich war tanzen, klar? Tanzen!«
Shandor brüllte beinahe, und Thomas hielt das Handy etwas vom Ohr entfernt.
»Ja wenn ich nicht tanzen kann, sollst du auch nicht tanzen, und du kommst jetzt sofort nach Hause! Hallo? Ich war tanzen! Ja? Nicht etwa im Puff oder wo, nein, tanzen.«
Thomas wollte etwas sagen, aber Shandor ließ ihm nicht die Zeit dazu.
»Ich war um fünf Uhr morgens zu Hause, okay? Hallo? Nicht um sieben oder um neun, nein, um fünf. Okay?«
Thomas wollte etwas fragen, den bevorstehenden Abend betreffend, aber Shandor ließ es nicht dazu kommen.
»Ich bin jetzt nicht in der Lage, zu telefonieren!«
Shandor hängte ein. Er war sehr wütend gewesen.
Die Verabredung hatte er wie üblich vergessen.
Auch so etwas nennt man Autismus, dachte Thomas. Wäre er an diesem schönen Mittag nicht so milde gestimmt gewesen, hätte er sich bestimmt geärgert. Aber es gab diese Menschen nun mal immer häufiger, Menschen, die wie Shandor Selbstgespräche führten, wenn sie mit anderen sprachen, und nicht einmal mehr die Grundbegriffe menschlicher Kommunikation wie Guten Tag und Auf Wiedersehen beachteten. Wir haben unsere gesellschaftlichen Gemeinplätze, falls es einmal so etwas wie common sense gab, doch längst verlassen. Eine Frage jedenfalls wird neu gestellt und erarbeitet werden müssen, dachte Thomas und sah auf die Kreuzung Rosenthaler Platz. Die Frage nach dem Herrn und seinem Knecht. Herrn Puntila und Matti. Hat der Herr einen anderen Gott als der Knecht? Diese Frage hatte einmal ein Irrer namens Pong erhoben. Die Frage bewegte ihn. Sah er sich nicht, beinah kokettierend, in der Rolle des Knechtes? Hatte er diese Rolle nicht, in fast betrügerischer Absicht, als seine natürliche Aufgabe betrachtet, obwohl er faktisch doch niemandes Knecht war, zumindest nicht eines bestimmten Herrn Knecht, sondern, wenn überhaupt, vieler Herren Aktionäre Knecht? War er irgendwo angestellt? Aß er eines Mannes Brot, des’ Lied er hätte singen sollen? Nein. Thomas war sein eigener Herr.
War er das wirklich?
Die Frage des Herrn und des Knechtes kann man heute nicht mehr stellen, dachte Thomas. Es gibt keine klare Einteilung zwischen Herr und Knecht mehr. Das Zeitalter der Großgrundbesitzer hat mit Bertoluccis 1900 ein Gesicht bekommen. Die Herren von heute haben ja keine Gesichter mehr. Man kennt sie nicht, man erkennt sie nicht einmal, wenn sie einem begegnen, wenn sie über die Kreuzung Rosenthaler Platz spazieren und ein Café betreten, man weiß nicht, wie sie aussehen, wo sie wohnen, wer sie sind und was sie machen. Man sieht nur die Möchtegernherren, sieht sie vielleicht in dieser oder einer anderen Show, in einem Restaurant, der VIP-Lounge eines Nachtclubs, wo sie sich nur durch eine dünne Kordel von den anderen getrennt von deren gierigen Blicken bewundern lassen, aber ein großer Wagen, ein Kübel Champagner, das macht noch keinen Herrn. Man weiß jedoch, dass es sie gibt, dachte Thomas. Es sind womöglich
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