Gehwegschäden
ist, am Vorabend irgendeines Krieges in der Ferne eine Glocke hörte und plötzlich rührselig begriff, dass er die ganze verdammte Zeit glücklich gewesen war.
27. Machen Sie mal so, sagt der Professor, die Studenten gucken, und zum Sterben kommt der Oberarzt
Der Typ gegenüber, der Mann mit den langen Haaren und den Tätowierungen, die sind so klein und geschrumpft wie sein ganzer Körper, so klein wie Kinderkritzeleien. Er hat einen Laptop vor sich auf dem Bett liegen, er sieht einen Film an, mit Kopfhörern. Es ist ein amerikanischer Film, ein Actionfilm. Das kann Thomas Frantz sehen. Ich will sterben. Das kann Frantz hören. Leise, gelangweilt. Der Mann starrt auf den Bildschirm, der Mann ist so klein, so geschrumpft von seiner Sucht, leise, gelangweilt, er ist schmerzfrei, wie alle auf der Intensivstation. Frantz kennt den Film. Ein berühmter Autodieb in Los Angeles möchte aussteigen, doch er muss innerhalb von 24 Stunden noch einmal 60 ganz besonders wertvolle Autos stehlen, weil Gangster seinen Bruder gefangen genommen haben und drohen, ihn sonst umzubringen.
Dann wird der Raum neben Frantzens Bett durch einen Vorhang geteilt. Es ist ein eisernes Gestell mit einem Vorhang auf Rollen, irgendwie schäbig das, der Paravent, so katholisch und alt wie das Backsteingebäude mit seinen Ordensschwestern und gotischen Gängen, der Stoff muss ja einmal weiß gewesen sein und hat nun die Farbe einer Eierschale. Dahinter schieben sie eine ältere Frau hinein. Frantz sieht, dass es eine Frau ist, außerdem würden sie sonst den Vorhang nicht hineinschieben. Sie ist dickleibig. So alt ist sie gar nicht, vielleicht Mitte vierzig. Sie stöhnt. Sie sagt etwas, vielleicht Russin. Ja, ganz sicher. Oder Ukraine?
Frantz döst weg. Er simmert vor sich hin, über dünne Schläuche tropfen Flüssigkeiten in seine Brust. Dann wacht er auf, und er schläft wieder ein. Die schlimmen Schmerzen im Bauch sind weg. Es ist nur noch ein Zwicken da. Ein leichtes Zwicken wie eine Verstimmung. Verglichen mit den Schmerzen vorher nicht mehr als ein Unwohlsein. Er dämmert weg, wacht auf, es ist ihm, als habe er Marie-France’ traurige Augen neben seinem Bett gesehen. Er hört Stimmen draußen, auf dem Flur. Er sieht hinüber, die Tür ist offen, immer, er sieht eine Gruppe von jungen Leuten in weißen Jeans, weißen Kitteln. Studenten. Der Professor hat eine Halbglatze. Ein grauer Bart umgibt sein Kinn. Er spricht. C2H5OH-Abusus. Er hebt seinen Zeigefinger. Frantz hört. Alkoholiker. Der Professor spricht. Bauchspeicheldrüse. Oft tödlich. Frantz döst weg, wacht auf. Der Professor spricht: Sie werden sehen. Fingertremor. Der Professor spricht: Sie werden sehen. Frantz sieht: Der Professor steht vor ihm. Er steht direkt an seinem Bett und trägt eine Nickelbrille, er sieht lustig aus. Frantz versteht: Der Professor hat von ihm gesprochen, er war gemeint, der Professor hat über seinen Fall gesprochen. Heben Sie mal die rechte Hand, sagt der Professor. Der Professor sieht ihn nicht an. Die Studenten stehen um den Professor herum. Frantz hebt die rechte Hand. Die Studenten sehen auf seine Hand. Machen Sie mal so – der Professor hebt seine rechte Hand und streckt zwei Finger nach vorn. So! Frantz streckt zwei Finger nach vorn und macht so. Alle sehen auf seine Finger. Sie sind ganz ruhig. Der Professor sieht ganz enttäuscht aus. Die Finger bleiben ruhig. Ach so. Das Narkotikum. Na klar, sagt der Professor. Das hatte ich ganz vergessen. Der Professor sieht verärgert aus. Die Finger zittern nicht. Ohne ein weiteres Wort wendet er sich ab. Der Professor sieht beleidigt aus. Er verlässt den Raum, die Studenten folgen ihm.
Einer sieht Frantz im Hinausgehen an, in die Augen.
Frantz döst weg.
Er wacht wieder auf.
Wie lange hat er geschlafen? Wie lange ist er schon hier? Zwei Tage? Drei?
Er wacht wieder auf, er hat Schmerzen. Schlimme Schmerzen. Es ist, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gestochen und würde es ständig herumdrehen. Statistisch gesehen ist das eine seltene Sache. Fünf von hunderttausend. Das ist Frantz gesagt worden. Der Schmerz lässt nicht nach. Nie lässt er nach. Selbst unter den härtesten Säufern befällt das nur zehn von hundert, ist Frantz gesagt worden. Einen Schmerz, der nachlässt und wiederkommt, kann man ertragen. Faktisch gesehen ist das eine miese Sache. Der Schmerz bleibt. Er ist immer da. Man kann sterben, daran, an einer schwitzenden Bauchspeicheldrüse. Drei von zehn. Ist gesagt worden.
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