Gehwegschäden
Frantz drückt auf den Knopf neben seinem Bett. Wenn die Bauchspeicheldrüse sich entzündet, schwitzt sie, gewissermaßen, jene Magensäure aus, die sie produziert, aber sie schüttet die Säure nach außen hinaus, statt sie in den Magen zu pumpen. Sofort kommt eine Schwester. Dann verdaut sich das Organ gewissermaßen selbst, ist gesagt worden. Ich habe Schmerzen, sagt Frantz. Gleich, sagt die Schwester. Das Organ frisst sich auf, es zersetzt sich selbst, und dann könne man das zermatschte Gewebe mit dem Finger wegwischen wie einen Knäuel Staub, sozusagen, wenn man die Bauchdecke öffnete, gleich, der Oberarzt kommt gleich, sagt die Schwester.
Gleich.
Er döst weg, trotz der Schmerzen.
Gleich.
Er wacht auf.
Man kann sterben, daran, gleich.
Und wenn man stirbt, wie banal ist das?
Man liegt da und kriegt eine Morphiumspritze. Man spürt nichts. Keine Schmerzen mehr. Frantz fühlt sich fast wohl. So ist das. Ist müde. Irgendwie weg, und doch da, und dann ist man ganz weg. Kein Tunnel. Kein weißes Licht. Allein. Kein letzter Rausch wie eine Teenagernacht. Der Tod ist so banal, so banal wie das Leben ab fünfzig. Wir können noch mehr, sagt der Arzt und spritzt was nach. Das müssten Sie gleich spüren, im Kopf, sagt der Arzt. Es ist der Oberarzt. Müssten Sie spüren. Zum Sterben kommt der Oberarzt. Frantz sieht den Oberarzt an. Geht’s jetzt ans Sterben? Der Oberarzt hat die Spritze noch in der Hand. Schneiden Sie jetzt? Die Spritze steckt in einem kurzen Schlauch des Zentralen Venenkatheters direkt über seinem Herzen. Das zermatschte Gewebe? Nein, sagt der Oberarzt. Die Spritze ist noch halbvoll. Warum? Weil wir nur im äußersten Notfall am Pankreas schneiden. Warum? Weil das oft letal verläuft, sagt der Oberarzt. Im Kopf. Müssten Sie spüren. Ein Holpern. Frantz spürt etwas. Ein Holpern. Da holpert doch was. Sein Herz. Frantz spürt das, ganz genau. Er verspürt nicht Schmerz, er spürt das Holpern. Sein Herz. Es setzt aus. Dann springt es. Es hüpft, ein paarmal, setzt aus. Mein Herz, sagt Frantz. Was?, fragt der Oberarzt. Es schlägt ganz komisch, sagt Frantz. Der Arzt sagt etwas, ganz laut. Frantz versteht nicht, der Arzt sagt, fühlt seinen Puls, winkt, er hat die Spritze noch in der Hand, ganz laut. Schlägt nicht mehr, sagt Frantz, ganz stimmlos. Der Arzt sagt etwas ganz laut. Frantz ist ganz leise. Der Arzt winkt. Wie banal. Fühlt den Puls, da ist nichts mehr, winkt, ganz laut. Möchte er jetzt nicht älter werden? Winkt. Wie warm. Auf einmal. Alt werden? Wie still. Auch wenn er Angst hat vor dem Alter und der Leere? Ganz leise. Ja. Ruhig. Ja, er möchte älter werden, jetzt, ganz bestimmt. Wo ist er? Älter als jetzt. Der Oberarzt. Spritze noch in der Hand. Nur noch diese Spritze, und dann ist er weg, denkt Frantz, ganz weg, und auf einmal ist so ein Leben vorbei. Zu Ende. Aus. Einfach so. Man ist irgendwie weg, man wird noch in den Operationssaal geschoben, und dann ist man ganz weg. So geht das. Schlägt nicht mehr. Wacht nicht mehr auf. Fertig. So. Die Wohnung wird ausgeräumt. So. Die Möbel werden verkauft. So. Verteilt, die Bücher, seine Bücher. Wer will noch mal? Wer hat noch nicht? Und die Fotos? Bilder? Und die Geschichten, die er geschrieben hat, all die vergilbten Zeitungsausschnitte im Karton im Keller neben den mit Marie-France eingekochten Aprikosenmarmeladegläsern vom letzten Aprikosenbaum auf der Frankfurter Allee im letzten Sommer, all die Magazinseiten, die er gefüllt hat, die vielen Jahre, so viele Länder, all die Nächte, Gedanken.
Ja, ich will!
Tagebücher, Gefühle, Schmerzen, Träume? Müll. Den Rest kriegt der Ramscher.
Ich will leben!
Komisch. Dabei will doch jeder, dass was von ihm bleibt? Spritze. Hand. Was bleibt? Nur noch. Übrig? Diese.
Später, um wie viel später?, er liegt schon auf der ganz normalen Station, es ist die Station der siechen Nieren- und Blasenpatienten, die Station der alten Männer, man hat ihn dort wohl hineingeschoben, weil die Intensivstation nur mit den dringendsten Fällen belegt und auf der Innerei kein Platz mehr gewesen ist, kommt ein Arzt im Praktischen Jahr, der PJler.
»Wow«, sagt der PJler.
»Sie haben ja einen ZVK! Das ist das erste Mal, dass ich einen ZVK sehe! Darf ich mal?«
Thomas Frantz ist aufgewacht.
Der PJler beugt sich über Frantz und begutachtet die Schläuche an seiner Brust. Die Nadel des Zentralen Venenkatheders ist lang und krumm. Sie führt von der Haut durch das Gewebe hindurch direkt in eine
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