Gehwegschäden
Glatze sitzt vor roter halber Kuh an der Wand, eine hübsche Frau im Burgundersessel, ein handverlesenes jahrhundertealtes Waschbecken, vielleicht Paris, ziert die Herrentoilette und wohl ein Ebenbild auch die der Damen, das kann Thomas durch die Glastür erkennen.
Thomas gibt sich Mühe. Er packt seinen Toshiba aus. Er liest Nachrichten und versucht, vergnügt und geschäftig zu sein. Aber er mag sie nicht, diese Prekarianer. Es sind nicht seine. Sie sitzen da den ganzen Tag bei Macchiatos und Espressi, bei Tramezzini und Mate und Bruschette, auch wenn es auf der Karte heißt Molle vom Fass und Mumpen uff Flasche. Das kostet alles eine Schweinekohle. Es sind apanagierte Prekarianer. Bürolose Nomaden von der Ich-zuerst-Agentur, Hätschelkind-Trainees, von ratlosen Eltern des Wirtschaftswunders gesponserte Prekarianer. Ihnen steht das Wasser noch lange nicht bis zum Hals. Vielmehr eine lässige Zeitschriftenlangeweile im Gesicht. Sie tragen den Chic der Casting-Allee, secondhand mit einem Glanz von Dreck. Poliertes Lumpenprekariat. Die Glatze vertieft im iBook, ganz Ego wie er selbst, ein Mann trägt Kuchenschachteln zur Tür hinaus, die Glatze reibt sich den Kopf, das Mädchen im Burgundersessel ist weg, die Glatze mit Stern auf brauner Brust ist genervt, aber farblich korrekt vor der roten halben Kuh, und das muss man sich auch mal vergegenwärtigen, iBook heißt ja wörtlich übersetzt: Ich-Buch.
Das ist also der letzte Schrei der Republik. Thomas strengt sich an, aber es ist schwer, aus seiner Haut herauszukriechen. Sanftes Tastaturgeraschel, gedämpfte Blue-Tooth-Kommunikation. Da hat in den Cafés doch glatt die digitale Revolution Einzug gehalten. Das Leben ist eine Lounge im myspace zwischen London, Berlin, Tokio und Tel Aviv, sinniert Thomas, ein Ritt auf dem Stick, ein Soloauftritt live und WLAN-verbunden aus den Schaumstoffkissen des apfelgrünen Sperrmüllmöbels direkt in die internationalen Märkte hinein …, bravo.
Thomas holt sich einen weiteren Latte Macchiato und versucht Zeitung zu lesen, ersinnt aber nur Gemeinheiten. Ihnen schießt das Adrenalin noch nicht genug ins Hirn, diesen Schnöseln, die noch wie berauscht sind von der eigenen Wichtigkeit. Dabei merken sie nicht einmal, dass sie in ihrer schönen neuen Arbeitswelt eine Fragrance von Freigeist verbreiten, aber das Wesen der Knechtschaft atmen. Ihre Lässigkeit ist der Dresscode der Freiheit, das ist ihre Rüstung wie das Schachboxen für Thomas. Wie lange wird es dauern, bis ihren Alten die Puste ausgeht? Wie lange werden sie noch von ihren biodynamischen Triple-Decker-Clubsandwiches mit gegrillter Putenbrust, Sojakeimlingen und Pinienkernen abbeißen können? Und was würde passieren, wenn all diese drahtlos verbundenen Kaffeehausautisten einen Tag lang ihre Arbeit niederlegten? Wenn sie im ganzen Land ihre Laptops geschlossen hielten, ihre Handys ausschalteten und mit Trillerpfeifen auf die Straße gingen? Würde Deutschland im Chaos versinken? Würde das Netz zusammenbrechen? Würden virtuelle Züge zu spät kommen, digitale Förderbänder stillstehen, graphische Zechen geschlossen, imaginierte Warenkörbe und Briefkästen leer bleiben, würden irgendwelche World-Wide-Web-Runde-Tisch-Gespräche und Internet-Tarifverhandlungen in Gang gesetzt, die Volksseele in Aufruhr versetzt? Vermutlich ginge das Café auf einen Schlag pleite. Thomas leert sein Glas, fühlt Müdigkeit gepaart mit einer angenehmen Leere im Kopf, setzt sich draußen auf die orangerote Plastikstuhlbank und raucht frische Luft. Als er dort das Handy anstellt, sieht er, dass Shandor bereits dreizehnmal angerufen hat.
Thomas erinnerte sich daran, dass er mit Shandor für diesen Abend verabredet war, zu einem Jazz-Konzert. Shandor hatte die Karten organisiert, er hatte sie umsonst bekommen, auch Cordula und Dietmar sollten kommen.
Immer wenn Shandor anrief, war er völlig genervt. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, danach zu fragen, wie Thomas sich gerade fühlte oder was er machte. Shandor rief ihn an, im Tonfall Seiner Generalität gegenüber der Ordonnanz, und Shandor setzte dabei einen umfassenden Wissensstand um seine Person und stündliches Befinden voraus, was Thomas automatisch zum Nachfragen zwang.
Etwa weil die Kinderfrau einen halben Tag freihatte und Shandor sich seit dem frühen Morgen in der Zehlendorfer Villa mit der zweijährigen Tochter zu beschäftigen hatte, während seine Frau arbeitete. Damit war Shandor vollkommen überfordert, so wie seine
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