Gehwegschäden
wütend.
Nach der Pause hat sich Ottos Nachbarin woanders hingesetzt. Ein Physiker und Manager eines Telefonkonzerns spricht über die Quantentheorie des Markenzeichens. Die Werbung im Netz wird immer kleiner, hat er beobachtet, bis hin zu winzigen Pixel-Bildchen auf Twitter-Nachrichten, die mit dem bloßen Auge kaum noch zu erkennen sind, aber gern aus Versehen angeklickt werden. Nanomarketing nennt er das. Ein schlaksiger Typ mit Pilzkopf, Bundfaltenhose und Trainingsjacke springt auf die Bühne und hält einen Vortrag mit dem Titel: Digitale Fallen. Der Typ sieht aus wie eine intelligente Version von Tom Cruise und macht keine langen Umschweife. Er gibt sich als Creative Director einer Amsterdamer Agentur zu erkennen, die Computerspiele entwickelt, und erzählt von seiner Arbeit. Er zeigt Cartoons von Mickey Mouse bis zu höllenartigen Endzeitzeichnungen und plötzlich das Foto eines Jungen vor dem Weihnachtsbaum.
»Ja, so hat’s mal angefangen. Früher, einige hier im Auditorium werden sich erinnern, war Weihnachten anders. So hab ich meine ersten Skizzen gemacht, mit Malstift und so, noch auf Papier.«
Das Bild wechselt, man sieht die Zeichnung eines total verkabelten Zombies, der an Schläuchen und Maschinen hängt.
»Und so sieht das Ganze heute aus.«
Gelächter.
»Kennt ihr vielleicht, es ist alles so monoton geworden, alles geht nur noch durch diesen Bildschirm wie durch ein Nadelöhr hindurch. Wir arbeiten ja nicht mehr mit Schere oder Papier oder solchen Sachen, die eigentlich einen schönen eigenen Look haben. Es ist im Prinzip immer alles gleich. Ich denke, in der Computerspielbranche sieht man ganz gut, was passiert, wenn man eine Sache ins Extrem treibt.«
Man sieht jetzt einen prallvollen Aschenbecher.
»Es kommt mir manchmal so vor, als wären wir Kettenraucher, die Industrie sagt uns ja, wir sollen mit Genuss rauchen, aber es gibt halt Leute, die das die ganze Zeit machen. Wir gehören genau zu denen«, sagt der Typ auf der Bühne, und es wird ziemlich still im Saal.
Der Typ spricht so geschliffen wie schnell, aber es liegt so etwas wie Wehmut in seiner Stimme. Er spricht von Ablenkungen und tausend Kreativprogrammen, die jeden Tag parallel auf seinem Bildschirm laufen und nach Aufmerksamkeit schreien, von sozialen Netzwerken, die gespeist werden wollen, und davon, dass gleichzeitig gar nichts mehr in seinem Leben passiert. Der Typ spricht schnell, und er spricht allen im Saal aus der Seele. Es ist Thomas, als säße er in einem Meeting der Anonymen Alkoholiker. Der Typ steht da oben und schluchzt schon fast.
»Worum geht’s denn in Wirklichkeit? Ihr sollt nicht vergessen, warum wir überhaupt angefangen haben mit der ganzen Sache, nicht, weil wir gesagt haben, hey, ich möchte den ganzen Rest meines Lebens vorm Computerbildschirm sitzen, nein, sondern weil wir was erschaffen wollen und der Computer nur Mittel dazu ist. Und ich glaube, es tut ganz gut, auch mal ’nen Schritt zurück zu machen und zu sagen, äh … ich mach das Ding jetzt einfach mal aus.«
Otto tuschelt jetzt mit einem anderen Mädchen, das vor ihm sitzt, und Thomas hat eigentlich genug für diesen Abend, aber er sitzt nun mal mittendrin, und für den Schluss wird noch ein echter Kracher angekündigt. Die Bühne betritt ein kleiner dicker Mann. Er hat einen Zwicker auf der Nase und trägt einen Dreiteiler im Retrolook. Er sei ein hochrangiger Vertreter der Österreich-Werbung, und er spricht über die Renaissance der Ansichtskarte in Zeiten der Krise, er hat eine Stimme wie Wiener Schrammelmusik, und er spricht ohne Punkt und Komma.
»Menschen werden die kostbarste Zeit des Jahres weiterhin auf Reisen verbringen, aber sie werden andere Ziele anstreben, in Zeiten der Krise wird eine Wertedebatte geführt«, sagt der Mann ohne Punkt und Komma, »und diese hat Einfluss auf die Urlaubsentscheidung, nicht mehr teure Flugreisen in exotische Gegenden, sondern die Besinnung auf wahre Urlaubserlebnisse, gelebte Gastfreundschaft, das gewachsene Weltkulturerleben und intakte Natur hautnah sozusagen am eigenen Körper erspüren, wir setzen in Österreich auf den stimmigen Dreiklang von Kulinarik, Begegnung und Natur, immer schon hat Österreich mit kulinarischen Hochgenüssen verführt, und wir laden Sie dazu ein, den Urlaub mit allen Sinnen zu erleben, erleben Sie also erlebte Geschichten, die in keinem Reiseführer stehen, Verführungen für eine Reise voller Erlebnisse, über die man viel erzählen möchte, Begegnungen mit
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