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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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fränkischen Dialekt zurückfällt, den sie sich so mühsam abzugewöhnen versucht? Warum blieben sie bloß hocken in ihren Hütten wie die Lemminge und starben wie die Fliegen? Er könnte reinbeißen in ihr Nürnberger Lebkuchengesicht. Warum nur wurde New Orleans nicht evakuiert? Ihre Augen verziehen sich zu Mandelschlitzen, wenn sie wütend ist, und dann sieht sie aus wie Dizzy Gillespie, der in seine Trompete bläst. Warum nimmt er bloß die Beine nicht in die Hand und rennt weg? Sie wird ihn schlagen. Weit weg? Er wird sie schlagen. Nur nicht bewegen. Dieses Mal nicht. Er will, dass sie ihn schlägt. Einfach in die Seile hängen und auf die Schläge warten. Wie der Robert de Niro in Raging Bull . Sie werden sich gegenseitig furchtbar wehtun. Anschließend wird die Rolle der politischen Akteure von der Regierung in Washington bis zur Stadtverwaltung untersucht. Wie immer.
    Thomas war zu Hause, als Marie-France anrief. Sie wollte heute Abend mit ihm essen gehen, Thomas hat das vergessen, Couscous. Sie hatte da einen Laden ausgemacht, irgendwo in Schöneberg. Nollendorfplatz. Südfranzosen. Um sieben Uhr. Thomas wollte aber um acht, spätestens neun zum Boxen. Laienboxen im Festsaal Kreuzberg. Seine Schachboxkumpels würden alle kommen. Und vielleicht auch Sandra.
    Er wollte allein dorthin. Er wollte Sandra treffen. Natürlich. Und was? Ja, und was! Da war es, das Wort, Dilemma. Zum Teufel. Zum ersten Mal. Thomas würde zum ersten Mal zum Betrüger werden. Zum ersten Mal seine Freundin in dieser Weise belügen. Da fing es an, das Wort Dilemma, und war schon im selben Moment zur Katastrophe geworden.
    Thomas hat eine Moral. Er hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, am Ende einer desaströsen Nacht mit einer Frau, die er irgendwo kennengelernt hatte, mitzugehen. Das war kein Betrug. Denn er stand ja unter dem Einfluss von Alkohol. War also fremdbestimmt gewesen. Damit ist der Tatbestand des Betrugs nicht erfüllt. Eine betrunkene Nacht zählt nicht wirklich. Aber eine Affäre? Zum Vergnügen? Und nüchtern? Am Ende mit Leidenschaft? Und Vorsatz? Und Wiederholungscharakter? Das war Betrug. Sicher. Solange sich dieser Vorsatz nur in seinen Gedanken abspielte, war es noch ein halber Betrug. Solange er mit Sandra flirtete, solange sie sich kleine Nachrichten schickten, sich einmal bei einer Lesung, ein andermal bei einer Universitätsveranstaltung trafen, war das wie Clinton. Wie Sex ohne Koitus. Alles ganz unverfänglich. Konnte auch ein ganz normales Treffen unter Fight-Club-Kumpels sein. Ganz unverbindlich. So wie Sandras kleine Nachrichten. Man konnte sie so lesen oder anders. Sie legte sich nie fest. Generation ganz unverbindlich nannte Thomas das. Du bist super, hatte sie ihm zu Silvester aufs Handy geschickt. Punkt null Uhr, zu seiner völligen Verblüffung. Die haben das total drauf. Er hatte nicht mal antworten können, so baff war er gewesen. Was zu sagen, was nichts sagt. Was aber voll sitzt. Diese Grünschnäbel. Das sah aber geil aus, sagte sie mal nach dem Boxen. Was denn? Der Blick. Wie der arme Junge da dreinschaute, jedes Mal, wenn du auf den Sack gehauen hast, den er festhalten musste, sagte sie. Thomas stand da wie angewurzelt. Hat auch gesessen. Konnte aber auch nur die Visage des armen Jungen gemeint haben. Thomas hätte gern was gesagt, setzte sich aber. Er saß auf der Schachbank und lächelte dämlich, wie er überhaupt nur dämlich lächeln konnte, jedes Mal, wenn sie etwas sagte, ohne was zu sagen. Sein Leben sackte in die Boxershorts.
    Thomas liebte diese Sätze, die nichts sagten und saßen. Er hätte am liebsten auch endlos weiter nichts sagen wollen, beherrschte aber diese Kunst nicht, etwas nicht zu sagen, das sitzt, und war es gewohnt, was zu sagen, zu dem er stand. Und so hatte er den Fehler begangen, ihr Damengambit anzunehmen. Ihr in der Nacht zu sagen, vielmehr zu simsen, er hätte ihr an diesem Freitagabend nicht zufällig am Schachbrett gegenübergesessen und Bauer d5-c4 gespielt, statt sich slawisch oder sonst wie zu verteidigen, selbst die Figuren hatte er eingangs schon falsch aufgestellt, Springer und Läufer vertauscht, Dame und König, so verwirrte ihn sein unmittelbares Gegenüber. Und dann hatte er in der Nacht doch mal wieder was gesoffen und simste ihr, trunken und trottelig, wie er war, liebe Sandra, simste er, das war kein Zufall. So was Blödes. Da hat er aber was gesimst, was was sagt. Und nicht mal saß. So was Idiotisches. Sie simste auch gar nicht zurück. Logisch.

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