Gehwegschäden
lacht.
Das Publikum jubelt.
Die Regeln sind einfach. Du kannst über alles sprechen, solange es deine Leidenschaft ist. Du darfst jedes Thema präsentieren, deine Arbeit, dein Produkt, dich selbst, solange es nicht länger als sechs Minuten und vierzig Sekunden dauert. Nichts ist zu abwegig, zu pervers, zu unbedeutend, solange du den Rahmen nicht sprengst. Man sieht eine Toilette auf der Leinwand. Eine der Türen ist geöffnet, auf dem Boden wieder der rote Slip.
»Panorama Bar Berlin, Europacenter, links in der Nachbartoilette sind die Mädels am Koksen, in der Mitte wird abgefahren!«
Die junge Frau wischt sich Schweiß von der Stirn, Thomas trinkt Cola. Es wird ihm warm, der Saal kocht. Neben ihm sitzt Otto, der grinst über beide Backen, jemand stößt die Cola auf dem Boden um. Pecha Kucha ist eine neue Dimension. Nicht im Sinne von Raum. Im Sinne von Hyperraum. Es folgt die Aufnahme einer Matratze auf dem Boden eines WG-artigen Zimmers, ein verwüsteter Schreibtisch in einem Büro (bei der Arbeit gilt ja: networken, networken, networken, sagt die junge Frau), und plötzlich sieht man das Foto eines jungen Mannes mit Sektglas in der Hand.
»Da! Das ist er!«, ruft die junge Frau jetzt völlig hysterisch, »das ist der Mann, mit dem ich all diesen sagenhaften Sex hatte! Wessel Wubs. Da! Holländer, sieht klasse aus, steht hier auf ’ner Party, total charmant, leider homosexuell, hab ich erst dabei bemerkt«, bedauert die Frau auf der Bühne, ihre Stimme überschlägt sich jetzt fast, es folgt das Bild einer Gruppe junger Leute, die winken, in der Mitte der Gruppe steht die junge Frau selbst, »ja und das ist meine Crew, die haben die ganze Zeit dabei zugeschaut.« Sie lacht und lässt mit dem letzten Bild die Katze aus dem Sack: Es ist ein Werbebanner, der Schriftzug der neuen »GIB AIDS KEINE CHANCE«-Kampagne, die bald bundesweit plakatiert werde, sagt die junge Frau begeistert.
»Ja, macht alle mit, seid alle gut. Bitte schön, danke schön!« Die junge Frau knickst und schickt Küsse ins Publikum.
Tosender Applaus.
»Sag mal, Otto, wir haben hier Eintritt gezahlt, um Werbung zu sehen?«, fragt sich Thomas.
»Ist doch egal. War doch geil, oder?«
Otto grinst von einem Ohr zum andern und späht nach etwas sexuell Verwertbarem.
Der Rahmen ist ein Vortrag aus 20 Bildern à 20 Sekunden. Die Bilder bringst du mit, die Reihenfolge bestimmst du selbst. Jedes Bild wird auf eine Leinwand projiziert und bleibt dort exakt 20 Sekunden stehen. Dann wechselt das Bild, du hast keinen Einfluss darauf. Du erzählst etwas zu den Bildern oder du liest etwas vor, du sprichst mit dem Publikum oder mit dir selbst. Wie du willst. Du hast sechs Minuten vierzig. Auf deinen Vortrag folgt direkt der nächste. Der Vortragende heißt Speaker. An einem Abend sind es zwischen acht und vierzehn. Jeder kann ein Speaker sein, er muss sich nur anmelden. Dann wird er auf die Liste gesetzt. Eine andere junge Frau betritt die Bühne und sagt: Ich habe mich seit fünfzehn Jahren mit mir selbst beschäftigt und 2000 Fotos von mir gemacht. Sie zeigt zwanzigmal sich selbst, nackt, und ordnet diesen Bildern Drogenrausch und Depressionen zu. Otto ist völlig aus dem Häuschen. Er hat Kontakt zu seiner Nachbarin aufgenommen.
Der Nächste nimmt das Mikrofon und sagt: Ich bin ein koreanisches Projekt in Zusammenarbeit mit einer Telefongesellschaft. Man steckt vierundzwanzig junge Kreative zwölf Wochen in sechs Kammern einer Fabriketage in Seoul und lässt sie arbeiten, an was sie wollen, Pixel, Programme, quadratische Handys, und was kommt heraus bei dem Experiment?
»Julia.«
Julia ist auf dem letzten Bild schon fünf Monate alt.
Pecha Kucha ist eine Show. Nicht im Sinne von Comedy. Im Sinne von Reality. Jemand spricht über seine Erfahrungen als Wahlbeobachter im Kongo. Ein Arzt erklärt, wie man Beinprothesen herstellt. Ein Fotograf zeigt zwanzig Pudelportraits, und gleich darauf erzählt ein junger Deutsch-Iraner, wie sein Cousin bei einer Demonstration in Teheran verschwand – und die Familie nach 25 Tagen gegen Kaution seine Leiche zurückbekam. Pecha Kucha ist ein Spiel. Nicht im Sinne von Spaß. Im Sinne von todernst. Es geht um kybernetische Liebe, Hunger in Somalia und eine Kernseifensammlung. Eine Frau fährt seit dreizehn Jahren Motorrad und sucht einen Verlag und Sponsoren für die erste Motorradzeitschrift, die nicht an Technik orientiert ist: Look und Maschine müssen stimmen bis zum Stitching auf dem Sattel, sagt sie. Hier
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