Gehwegschäden
Wald –
»die merkwürdig zu jener passt, fast könnte man sagen, dass man auf der Postkarte Wittgensteins dort aus dem Wald kommt, wo Kafka in diesem verschwunden ist, irgendwann zwischen 1885 und 1918, dem goldenen Zeitalter der Ansichtskarte.«
Der dicke Mann von der Österreich-Werbung zieht den Zwicker von der Nase und verneigt sich tief.
»The medium is the message, Verehrung und vielen Dank.«
Frenetischer Applaus.
30. Thomas richtet sich ein in seinem postmortalen Glück, da springt ihm Hurricane Katrina mit ihrem hübschen Hintern ins Gesicht
Er hatte sie gar nicht bemerkt, sie hatte sich unter die Schachboxer gemischt, bis sie nach der Aufwärmrunde plötzlich vor ihm stand und sich umdrehte: Kannst du mir mal den Handschuh zumachen? Es war ihre Stimme. Sandras Stimme. Sie klingt wie ein Sack lackierter Briketts, die ganze naive Brutalität. Das geht Thomas direkt in die Hose. Am Ende legte sie beim Stretchen noch einen Spagat drauf. In jede Richtung.
Das war’s. In jeder Hinsicht.
Sandra fegte über die betuliche Tragik seines frischen Frühseniorendaseins hinweg wie Hurricane Katrina. Über den Wirbelsturm von New Orleans schrieb sie gerade ihre Doktorarbeit. Ihr Haar war hochgesteckt mit lauter Klämmerchen drin, wie kleine Krebse. Ihre Brille war rechteckig. Sandras Stimme brachte Thomas Frantz zu einer Art Schwingungsresonanz. Wie bei einer Riesenbrücke, die bricht, wenn ein Soldatenbataillon als Erregerfrequenz darübermarschiert und der Gleichschritt die Eigenschwingung der Brücke trifft und potenziert, physikstundenmäßig jedenfalls, ihre Augen sind grün.
Eines Tages war sie aufgetaucht, die Frau, die ihm doch noch ein Kind gebären konnte. Thomas traf sie jeden Dienstag und Freitag beim Schachboxen. Sie war groß und schlank. Sie hatte einen Knabenkörper. Auf einmal waren alle Karten neu gemischt. Wenn sie lachte, waren ihre Wangen rund und süß wie eine Honigmelone. Alles wieder da. Die ganze Nummer. Oder alles wieder vergessen, die ganze Scheiße, wie man’s nimmt.
Er hat den Tod gesehen. Er hat das Gelübde der Karenz abgelegt. Er hat die Freude des Exzesses hergeben müssen. Ganz egal, ob es eine falsche Freude war oder nicht. Etwas hergeben ist das Letzte. Auch, wenn er dafür andere Freuden empfangen hat, sie wiegen kann gegen den schrecklichen Verlust. Wiegen, wägen, Scheißdreck. Er ist nicht mehr zwanzig. Er ist nicht mehr dreißig. Genau genommen nicht mal mehr vierzig. Er hat kein Gramm Gottvertrauen. Er ist dabei, sich abzufinden. Und vielleicht gewinnt dieser Hüne gerade so etwas wie ein Vertrauen immerhin in sich selbst und einen Stand auf seinen merkwürdig zierlichen Füßen, da sichelt Sandra ihm die Beine weg. Hurricane Katrina. Sie springt ihn an mit ihrer Jugendlichkeit, ihrem unverblümten Brachialegoismus, sie hüpft ihm mit ihrem hübschen Hintern direkt ins Gesicht. Ausgerechnet in seiner Domäne. Ausgerechnet in seinem Intellectual Fight Club. Auf einmal ist alles wieder offen.
Sandra hatte ihre Arbeit über Hurricane Katrina gerade begonnen. Thomas verstand das. Heute promovierten ja alle, bevor sie Stewardessen, Optikergehilfen und Hausmeister wurden. Das half gegen die Angst, und es verlängerte die Party. Der Sturm des Jahres 2005 gilt als eine der finstersten Naturkatastrophen der Vereinigten Staaten. Er erreichte zeitweise Stufe 5 der Saffir-Simpson-Hurrikan-Skala. Thomas weiß, was ihn erwartet. Er ist jenseits der Hoffnung. Sein Leben liegt in einem feuchten Keller, geschichtet und gestapelt in klammen Kartons. Sozioökonomische und soziokulturelle Hintergründe der Nicht-Evakuierung New Orleans’. Was hält ihn verdammt noch mal davon ab, der sicheren Katastrophe zu entfliehen? Ihre Gelenkigkeit, wenn sie auf dem Boden die Beine spreizt und dehnt, als würde sie stricken? Angewandtes Katastrophenmanagement wird in historisch distanzierter Sicht bewertet, seziert, eingeordnet, evaluiert mit den Phasen Prävention, Intervention und Postvention. Ihre Unbekümmertheit, wenn sie beim Joggen den Oberkörper leicht vornüberbeugt, die Hände zu kleinen Fäustchen ballt, sie fast an ihren Hals presst, während sie plappert wie ein Wasserfall und Thomas nebenherläuft wie ein nagelnder Traktor und damit beschäftigt ist, sich nicht zu übergeben? Hierzu wird die sozio-demographische Struktur herangezogen. Die Bedeutung von Gewalt, Rassismus, Klassenbewusstsein. Hurricane-Kultur. Ihre entwaffnende Schlichtheit, wenn sie wieder in diesen fiesen
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