Gehwegschäden
echten Menschen, die nachhaltig wirken, Momente des Innehaltens, weil sie glücklich machen, und deshalb …«
– in diesem Moment erscheint auf der Leinwand das Bild einer gigantischen Ansichtskarte mit einem Bergmotiv und dem Schriftzug »Erleben Sie Österreich mit allen Sinnen« darauf. Sie steht auf einem dreimannshohen Ständer vor einem Bahnhof und wirkt irgendwie wie in das Bild hineingeklebt –
»… und deshalb ist auch die gute alte Ansichtskarte zum Träger dieser unserer neuen Kampagne geworden, es ist dieses Symbol der Urlaubsfreude, aber überlebensgroß, ein sieben Meter hoher Ansichtskartenständer wird durch deutsche Großstädte touren, und alle Passanten sind angehalten, Österreich mit allen Sinnen neu zu erleben.«
Der kleine dicke Mann ohne Punkt und Komma holt kurz Luft.
»Im digitalen Zeitalter hat die Ansichtskarte ja als ein ganz einzigartiges und unverwechselbares Kommunikationsmedium starke Konkurrenz von den High-Speed-Medien wie E-Mail und SMS bekommen, auch ist es üblich geworden, via Handy vom Reiseziel, der temporär begrenzten Endstation unserer Urlaubssehnsucht, von den Wundern der Ferne zu berichten, doch die neuen Medien sind allesamt von der Aura der Flüchtigkeit und des Ungreifbaren umwoben, digitale Erinnerungen verblassen und lagern vergessen auf anonymen Servern in den elektronischen Höhlensystemen moderner Notebooks, aber wer würde doch so herzlos sein, enthusiastisch-euphorische manifest gewordene Grüße und Mitteilungen, Ausdruck gewordene direkte Freude, auch Enttäuschung, einfach wegzuwerfen, diese konservierten Aufnahmen eines besonderen Momentes und verarbeiteter Wahrnehmungen unserer Sinne zu Gefühlen, zu Handschrift?«
Auf der Leinwand folgen Motive von Ansichtskarten wie Almwiesen, Kühe, Seen aufeinander. Der kleine dicke Mann würdigt sie keines Blickes. Er spricht ausschließlich dem Publikum zugewandt.
»Jedes geschriebene Wort auf jedweder Ansichtskarte besitzt für Sender und Empfänger synthetisierenden Charakter, der allein für diesen unverwechselbaren Fall zutrifft, ja, diese Form von Kommunikation ist Ausdruck von ganz individueller Vertrautheit schlechthin, obwohl alles sichtbar an der Oberfläche lesbar wird. Ganz besonders anzumerken ist …«,
– der Mann auf der Bühne dreht sich zum ersten Mal um, und man sieht eine kleinere, vergilbte Postkarte mit gezackten Rändern und einem ähnlichen Alm- und Kuh-Motiv, nur eben in Schwarzweiß –
»… dass die Ansichtskarte und ihre nüchterne Vorläuferin, die Correspondenzkarte, eine österreichische Erfindung ist, 1869 vorgeschlagen von Professor für Nationalökonomie Emanuel Hermann in der Neuen Freien Presse, die Idee einer Correspondenzkarte mit gedruckter Briefmarke, der Zweck dieser Karte die kostengünstige Produzierbarkeit und das Kuvert einsparend der breiten Bevölkerungsschicht die Möglichkeit schriftlichen Kommunikationsaustausches zu erschaffen, die Correspondenzkarte deshalb nur halb so teuer wie die Briefsendung mit auf maximal 20 Wörtern beschränkten Mitteilungen, eine Art historisches Pecha Kucha möchte man meinen, die Idee des Professors also, überdies ausgewiesener Modekenner, von der kaiserlich-königlichen Postdirektion begeistert angenommen, ein voller Erfolg, die ganze Monarchie verfiel in beredte, nie gekannte Mitteilsamkeit, der Siegeszug eines ganz spezifisch österreichischen Mediums, ohne das kein richtiger Urlaub überhaupt mehr denkbar ist.«
Der Mann rückt sich den Zwicker zurecht. Auf der Leinwand sieht man eine vergrößerte Handschrift offenbar auf der Rückseite einer Correspondenzkarte. Der Mann deutet mit dem Finger auf die Schrift und liest:
»Das ist ein Wald, und in diesem Wald kann man glücklich sein. Deshalb komme her! Das schrieb Franz Kafka aus dem Sanatorium Zuckmantel an seinen Freund Max Brod, 1906. Es ist gar nicht auszudenken«, sagt der kleine dicke Mann, »was mit dieser Grußbotschaft Kafkas geschehen wäre, hätte er sie als bloße E-Mail versandt. Sie wäre womöglich in einem Totalcrash der Brod’schen Festplatte zerfetzt worden und unwiederbringlich im Orkus des Vergessens gelandet. Wittgenstein war, ganz ähnlich wie Kafka, ein schwieriger, obwohl außergewöhnlicher Mensch und daher prägend für die Geistesgeschichte Österreichs, vor hus, also norwegisch: unser Haus, und: Venlig hilsen, norwegisch: Freundliche Grüße, lesen wir da auf seiner Ansichtskarte«,
– man sieht eine Ansichtskarte und erkennt darauf einen
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