Gehwegschäden
zu und sieht auf das Bild.
»Jeder kennt das, Las Ramblas, Reisefieber, Gemeinschaftsräume, äh, es geht dann irgendwann nur noch darum, wer oben oder unten liegt.«
Das Bild auf der Leinwand wechselt. Man sieht einen Küchentisch.
»Mein Küchentisch.« Das Mädchen tritt jetzt näher ans Mikrofon und wird lauter. Ihr Gesicht verrät keine Regung. »Geerbter Küchentisch von der Oma, Blumen aus’m Garten, morgens halb acht, noch halbnackt, Frühstück … und man beißt noch mal an …«
Gelächter.
Die junge Frau auf der Bühne hat einen frechen Bubikopf und große, wache Augen. Sie trägt einen dunklen Hosenanzug und Turnschuhe dazu. Das Bild hinter ihr wechselt. Man sieht ein Stück Strand in schwarzer Nacht, Bierflasche, Strohhut, Handtasche, BH, das Blitzlicht der Kamera beleuchtet eine Kuhle im Sand.
»Ha! Hauptbahnhof, direkt dahinter, Sensation-Festival, kennt ihr vielleicht. Äh, ja, da in der Mitte …«
Die Frau auf der Bühne grinst.
Großes Gelächter.
Es ist Berliner Pecha-Kucha-Nacht. Thomas ist an diesem Abend im Festsaal Kreuzberg, weil die Schachboxer Otto, Friederike, der dicke Daniel, Daniela, Murat, Samy the lawyer und noch ein gutes weiteres Dutzend da sind. Das ist ihre Szene. Sie verpassen keine Veranstaltung. Wenn Schachboxen die Sportart der Prekarianer ist, dann ist Pecha Kucha ihre Bühne. Dafür wird sogar das Training verschoben. Im Hof und an der Bar gibt es Getränke. Das Bild auf der Leinwand wechselt. Man sieht einen Fahrstuhl, von innen fotografiert. In einer Ecke des Fahrstuhls liegt ein kleiner roter zusammengeknüllter Slip.
»Oh ja der Fahrstuhl, ganz schlimme Sache. Irgendwo in der Nähe des Kurfürstendamms. Sechs Prozent aller deutschen Männer hatten schon mal Sex im Fahrstuhl. Lange Arbeitszeit, den ganzen Tag hat’s schon so geknistert, und dann ist niemand mehr da außer der Typ und ich …«
Es sind rund 500 Leute gekommen. Die Kreativen der Stadt und solche, die sich dazu zählen. Hierher kommen die, die am Tag in den Cafés vor ihren Laptops bei Latte Macchiatos und Panini und Tramezzini sitzen und sich konzentrieren. Die, die in den Intelligenzagenturen, den Gemeinschaftskanzleien und Patchworkshops hocken oder allein am Schreibtisch vor dem Fenster zur Kastanie im Hof. Thomas erkennt sie und die Zeitschriftenlangeweile in ihren Gesichtern und den gepflegten Secondhand-Look. Auch Elvira, seine Nachbarin, ist da. Die, die sich in kleinen, in Kopfhöhe abgesägten Würfeln, in schäbigen Kantinen, auf toten Fluren und Linoleum wie Pizzakotze der Einsamkeit ergeben und die, die in verglasten Palästen und endlosen Konferenzen ihr Leben hingeben. Thomas identifiziert sie anhand ihrer Business-Kostüme, Dreitagebärte und ihres bossigen Gehabes. An manchen Abenden sind es mehr als 1000. Die Treffen finden in Clubs statt und in Sälen, in Museen, einer verwaisten Fabrikhalle oder einem Supermarkt. Was immer sich findet und hip genug ist. Der Festsaal Kreuzberg in der Skalitzer Straße ist ein Ort, an dem sonst Rockkonzerte, Poetry Slams, Schachboxkämpfe oder ein Oktoberfest mit Jodeln und Hau den Lukas stattfinden. Wieder wechselt das Bild auf der Bühne. Man sieht eine Dampfsauna, einen kleinen Raum wie in einem Hamam.
»Ah! Freitagabend, Swinger-Club«, sagt die junge Frau. »Jeder von euch war schon mal im Swingerclub. Oder? Man geht rein, an der Kasse schon ’n Riesenbottich Kondome, man geht runter, Séparées, 2000 Quadratmeter, 400 Leute, man geht durch die Cruising Area, Darkrooms, an den Käfigen vorbei, überall Glory Holes, Menschen, die an Kreuzen hängen, irgendwann kommt man zu den Sprudelbecken und auch zur Sauna …«
Raunen.
Pecha Kucha ist ein Vortragsabend. Das Wort kommt aus dem Japanischen und heißt so viel wie wirres Geplapper. Das ist es aber nicht. Es ist eine rasante Abfolge von PowerPoint-Präsentationen mit klaren Regeln. Pecha Kucha ist eine Weltbewegung. Die Globalisierung der Kreativität, erfunden von zwei Architekten in Tokio. Pecha Kucha gibt es in 534 Städten von Dawson City am Yukon bis nach Bangalore, Hyderabad und Honolulu. Man sieht einen Parkplatz, Gebüsch. Auto, ein Motorrad.
»Da im Gebüsch, man sieht da sogar noch was, in der Mitte, da, es riecht nach Schweiß, Dogging. Raststätte, zack, ran, man kann sich auf den Websites erkundigen, wo das stattfindet, die Männer fahren vor, man lässt sein Geschlechtsteil zum Fenster raushängen, Frauen haben da andere Zeichen …«
Die junge Frau auf der Bühne
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