Gehwegschäden
als Mohammed Atta in das World Trade Center flog mit seinem Copiloten, und Stockhausen, der Komponist, sagte, das wäre das größte Kunstwerk, das er je gesehen hätte. Ein optisch atemberaubendes Kunstwerk. Und niemand hat das je für möglich gehalten. So etwas als Kunst zu sehen. Das ist höchst interessant. Das Ding ist natürlich, dass eigentlich viele Leute Social Sculpting machen, ohne sich als Künstler zu sehen. Nicht nur Mohammed Atta. Es gibt Leute, die Initiative ergreifen.«
Iepe räuspert sich. Er sieht hinunter in den Innenhof. Über seinem Schreibtisch hängt ein Bild von Cassius Clay.
»Okay, und jetzt die Geschichte am Rosenthaler Platz. Du hast so was Ähnliches ja schon mal in Tokio und am Hackeschen Markt gemacht. Damals hast du die Kreuzungen abgesperrt mit gelben Bändern wie bei einem amerikanischen Krimi, so wie eine Crime scene, und alle haben angehalten. Die Leute flippten da aus und jubelten und fanden das klasse, da stoppst du ja den Fluss, brichst etwas.«
»Im Prinzip hat die Arbeit drei Aspekte«, sagt Iepe.
Er nimmt die Brille ab und reinigt sie. Dabei kneift er ein Auge zu. Das andere folgt einem Lichtpunkt an der Wand, den er mit seiner Brille erzeugt. Er merkt, dass er sich dabei nicht konzentrieren kann, und setzt die Brille wieder auf.
»Also erstens: Man stoppt das tägliche Leben. Was ja großartig ist. Ein Erdbeben, Stromausfall. Alle Leute kommen raus auf die Straße und reden miteinander. Das ist ein Moment von Austausch. Wenn irgendwas anders ist als normal, wird kommuniziert. Zweitens setzen sich meine Arbeiten mit einem sozialen Problem vor Ort auseinander. Wenn der Hackesche Markt sehr schön geworden ist, es ist alles so hübsch, dann ist das Gentrifizierung. Großartig. König, das hast du toll gemacht. Die Aktionsgalerie ist weg, der Club KaDeWe ist weg, die ganze Subkultur futsch, die da entstanden war. Jetzt ist es touristisch. Das war also auch ein Statement. In Tokio ist das ganz stark gelungen. Der Titel war: Es tut mir leid, sagte der Narr zum Kaiser, aber ist doch witzig, oder? Solche Scherze verstehen sie in Japan gar nicht. Dafür war die Strafe auch viel höher als am Hackeschen Markt. Eigentlich ist es so, dass alle Ansätze von Moderne von jungen Menschen in Japan eigentlich nur bis dreißig ausgelebt werden können, dann müssen sie in das Corporate Leben eintreten. Deswegen entwickelt sich die japanische Gesellschaft auch nicht besonders gesund. Ich stand am Anfang da mit einer Telefonliste von zehn Leuten. Nach acht Wochen waren es sechzig Leute, die mitmachten, und das hätte für sie schwerwiegende Konsequenzen haben können. Deshalb musste ich das Narrenkostüm anziehen, damit ich die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich lenke.«
Iepe grinst. Seine Augen zucken. Er kräuselt die Nase, verzieht das Gesicht und niest laut.
Thomas erschrak. Allein die Vorstellung, Sandra könne in seiner Wohnung duschen, ihre nach Weingummi Waldmeister riechende flaumbestrichene Pfirsichhaut in seiner Badewanne mit Wasser aus seinem Duschkopf benetzen, machte ihn ziemlich kirre. Die Guerilla-Aktion am Rosenthaler Platz. Thomas war völlig von der Rolle, seit das Handy ihn geweckt hatte mit diesem einzigartigen Freudensummen wie das Erwachen einer Hornisse. Eine SMS. Sandra. Um neun Uhr morgens.
Thomas war aus dem Bett gesprungen, noch ehe Marie-France merkte, was vor sich ging. Sie hätte ihm eine Frage stellen können, die er nur ungern hätte beantworten mögen. Warum er eine SMS bekommt, um neun Uhr morgens, zum Beispiel. Er, Thomas, der simsen hasste, weil er sich die Finger dabei brach, die Buchstabenfolge auf den winzigen Tasten einzugeben, der fluchte und sich ständig vertippte und dann die Löschtaste suchen musste, Thomas, der eine Excel-Datei nicht von einem Kreuzworträtsel unterscheiden konnte, Thomas, 110 Kilo schwerer Kriegsberichterstatter, der UMTS für eine Gewerkschaft und Wii für fernöstlichen Kampfsport hielt, bekam morgens um neun eine SMS, sprang von der Matratze am Boden auf und betätigte mit filigranem Zeigefingerdruck die Steuerungstaste seines Handys in der exakt für den Zweck des Lesens eines empfangenen Short Message Service erforderlichen Weise.
Muss noch 10 Kilometer in Köpenick laufen. Treffpunkt 12.00 Uhr Oberholz? Die haben hier anscheinend keine Duschen. Könnte ich notfalls bei dir? Sa.
Smiley.
Diese herrliche Generation. Diese wunderbare Welt der drahtlosen Kurzkommunikation. So leicht, so unbeschwert, so sexy konnte
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