Gehwegschäden
Da hätte sie ja was sagen müssen. Aber dann lächelte sie ihn am nächsten Dienstag wieder so mehrzielig an und sagte was, das er so oder so deuten konnte. Oder bildete er sich das ein? Konnte man nicht alles so oder so sagen?
Nein, nicht alles.
Wieder machte er einen Fehler. Ganz unzweifelhaft one-pointed, plump und eindeutig. Nicht im Schach. Nicht im Training. Später, in der Nacht, am Schreibtisch, wiederholt ein Glas Wein in der Hand, wagte er sich an eine Mail. Kommunikationsstufe 2.
Liebe Sandra. Ich möchte mit dir schlafen.
Thomas
Enter.
Eine strategische Meisterleistung. Am nächsten Morgen geißelte er sich mit der Neunschwänzigen. War aber schlau genug, nicht auch noch eine Entschuldigung hinterherzujagen, um den Rest einer Würde zu bewahren. Außerdem: Warum sollte er sich für die Wahrheit entschuldigen? Immerhin: Stilistisch war’s sauber. Kein Wort zu viel. Sie begegnete ihm vor der Halle. Er war gerade dabei, sein Rad rechts der Treppe anzuketten, als er bemerkte, dass sie dabei war, das ihre links anzuketten.
»Na, Thomas?«
Es war ein langgezogenes, ein endloses Na. Ein tiefes Ewigkeits-Na, ein stimmgewaltiges in Herz und Hoden gleichzeitig treffendes Na, gefolgt vom kurz-schnippischen Thomas. Ihm fiel die Fahrradkette aus der Hand. Sie hatte wieder etwas gesagt, ohne was zu sagen. Thomas wurde schwindelig. Wollte was sagen, wusste aber nicht, was. In diesem Augenblick kam Otto um die Ecke.
Das blöde Kreuzberger Laienboxen. Thomas wollte allein dahin. Weil Sandra da sein konnte. Wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Nix passiert, bis jetzt. Das Dilemma. Die Lüge. Der Betrug. Er stand da, das Handy in der Hand und Marie-France am anderen Ende, sein Herz klopfte, Schweiß bildete sich in seiner Handfläche, er stand da wie siebzehn und entschied sich für Couscous. Dieses Mal. Wen Gott nicht mag, den erhört er.
31. Der Rosenthaler Platz wird ganz bunt. Sandra will bei Thomas duschen, und die Revolution landet auf allen Laptops
»Okay. Social Sculpting. Das ist«, sagt Iepe, »glaube ich, die Suche vieler Künstler im 20. Jahrhundert, wie man Kunst und Leben verschmelzen kann. Das fing an mit Duchamps Pissoir. Ging über Warhol, Beuys und andere. Es ist aber noch nicht erreicht worden.«
Iepe ist der Erfinder des Schachboxens. Er streicht sich durch den Bart.
»Würdest du Christo und Jeanne-Claude dazu zählen?«
»Nein. Das ist noch eine klassische Skulpturform. Es sind immer noch Skulpturen zu erkennen. Und das verschwindet ja wieder aus der Gesellschaft. Ich traf mal diesen Typen, der hat einen Verein aufgebaut. Der war der Gründer der Panzerknacker AG in Deutschland. Das sind Leute, die täglich üben, Schlösser zu öffnen. Der hat diesen Verein aufgebaut, weil er daran glaubte, dass die Gesellschaft immer verschlossener wird. Wenn man Leuten beibringt, wie man Schlösser knackt, dann hat man Zugang zu verschlossenen Informationen und zu verschlossenen Orten. Das fand ich gut. Das ist Social Sculpting.«
Der holländische Aktionskünstler trägt seinen Bart derzeit etwas länger, also man kann schon sagen, es ist ein Vollbart. Thomas sitzt in einem ledernen Schwingstuhl, wippt und denkt einen kurzen Moment an beautiful hairy Josie Rall. Er sitzt Iepe in dessen Büro in der Schachboxwohnung in der Leipziger Straße gegenüber, die der Holländer angemietet und eingerichtet hat, um Veranstaltungen darin durchzuführen und ausländische Kämpfer zu beherbergen.
»Unter Social Sculpting kann ich mir also vorstellen, du nimmst die ganze Gesellschaft als eine Skulptur und beginnst, hier und da dran rumzumeißeln, sie zu verändern?«
»Ja. Du hast ’n Ansatz, ’ne Idee, und du fängst an, den Leuten diese Idee vorzustellen, und die machen was damit. Im Prinzip wie mit dem Schachboxen. Am Anfang haben mich die Leute immer gefragt: Spielt ihr Schach mit Boxhandschuhen? Am Anfang haben wir’s ja auch probiert. Ist aber zu schwierig.«
Iepe spielt mit seinem Handy. Es ist ein nagelneues iPhone. Er begeistert sich, Bilder darin aufzurufen und sie mit einer entschlossenen Bewegung des Daumens und des Zeigefingers zu vergrößern oder zu verkleinern.
»Als Künstler bin ich noch nicht zufrieden. Ich hab da eine These.«
Iepe legt das Handy auf seinen Schreibtisch. Er macht eine unnötig lange Kunstpause, in der er durch seinen Bart streicht. Er sieht Thomas an und fährt fort.
»Kunst kann alles sein und darf alles. Weißt du, es gibt doch diesen berühmten Skandal,
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