Gehwegschäden
eine etwas heikle Geschichte«, begann der Mann vom Sozialverein, Selcuk, Frantz konnte sich an ihn erinnern.
»Heikel? Inwiefern?«
Selcuk druckste herum. »Das wirst du schon sehen. Deswegen haben wir dich ausgesucht. Ich glaube, wir brauchen da jemand mit Erfahrung.«
Der Sozialarbeiter, um den es ging, hieß Seko. Er stammte aus Kreuzberg und arbeitete für den Verein am Teutoburger Platz.
»Seko wohnt aber in Niederschönhausen. Du wirst ihn dort treffen müssen.«
»Prima. Den Teutoburger Platz kenne ich gut. Ich wohne gleich um die Ecke.«
Es ist nicht groß, dieses Biotop am Prenzlauer Berg, viermal 77,50 Meter Robinien, Birken, Ebereschen. Zur Fehrbelliner Straße hin vermittelt ein gartenarchitektonisch geschickt gestaltetes Ensemble aus Steinen, Pfaden und Erhebungen den Eindruck einer kleinen Hügellandschaft. Viermal 77,50 Meter Photosynthese, Chlorophyll, Zitronensäurezyklus, vorherrschende Gattung neben Eltern und Kind ist der Hund, insbesondere der Rassen Weimaraner und Golden Retriever. Am Fuße des Platzes befindet sich das Stadtteilzentrum, ein fünfstöckiger Altbau. Neben dem Eingang des Stadtteilzentrums steht ein Schaukasten zum Zwecke des Papieraushangs und der Platzierung kleiner Dekorationsobjekte. Es ist ein weißer Flachschaukasten »Typ Intro« mit Sicherheitsglas, Schiebetür und magnethaftender Rückwand. Der Kasten ist das Schaufenster des Stadtteils. Wer davor stehen bleibt und darin liest, sieht in den Stadtteil hinein wie durch die Sammellinse eines Guckkastens.
Frantz fuhr mehr als eine Stunde mit dem Fahrrad. Seko wohnte in einer Reihenhaushälfte weit am Rande von Niederschönhausen. Als Frantz klingelte, hörte er ein Kind schreien. Die Tür öffnete sich, und Frantz sah auf ein Paar breiter, behaarter Füße hinab. Der Mann war groß und sehr dick. Er hatte lange Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und einen Wochenbart. Er trug Jeans und ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt. In seinen fleischigen Armen hielt er ein kleines Mädchen, es schmiegte sich an seine Brust und schien sich zu beruhigen. Seko führte Frantz durch einen schmalen Flur. Spielzeug lag auf dem Laminat. Seko erzeugte beim Gehen ein matt klatschendes Geräusch. Das Wohnzimmer wurde beherrscht von einer schwarzen Stoffcouchgarnitur, wie man sie aus Einrichtungshäusern in überwiegend von Türken bewohnten Hauptstraßen Kreuzbergs kennt. Der Raum war karg eingerichtet. Eine Saz lehnte an der Wand. Eine Wasserpfeife stand auf einer schweren, mit Nieten besetzten Kiste. Das waren die einzigen Dinge, die an Sekos Türkentum erinnerten. Seko führte Frantz in den Garten. Er bestand aus einem Rasenstück von der Größe eines Behindertenparkplatzes und einem mit sandfarbenen Steinplatten belegten, gleich großen Terrassenteil. Der Garten wurde durch einen halbhohen Holzzaun zum Nachbargarten der Zwillingshaushälfte begrenzt. Man konnte von Sekos Garten aus alle anderen Gärten der Siedlung einsehen. Sie lagen einander gegenüber wie ein sandsteingelbes und rasengrünes Schachbrett. Selbst die Länge des Rasens schien in allen Gärten die gleiche zu sein. Sekos mit sandfarbenen Steinplatten ausgelegter Teil des Gartens wurde dominiert von einer schwarzen Loungemöbelgarnitur aus Polyrattan. Die Modulgruppe bestehend aus Ecksofa, Tisch und Ottomanenhockelement war bestückt mit cremefarben und weinrot gestreiften Schaumstoffsitzkissen aus witterungsbeständigem Polyester. Zum Rasenteil hin wurde der Garten räumlich getrennt durch eine monströse Hollywoodschaukel.
Seko brachte türkischen Kaffee.
Er setzte sich in die Hollywoodschaukel und drehte sich eine Zigarette.
»Willst du Zucker?«
Der Mann hatte eine Fistelstimme.
Der Schaukasten ist ein Kommunikationsmittel. Die Herausforderung der Schaukastenarbeit beginnt mit der Auswahl des richtigen Kastens und dem passenden Standort. In der Flüchtigkeit des Augenblicks soll der Passant die Botschaften verstehen und aufnehmen. Der weiße Flachschaukasten mit 50 Millimeter Bautiefe und matt verchromten Druckguss-Eckverbindern hängt in durchschnittlicher Augenhöhe an der Hauswand des Stadtteilzentrums am Teutoburger Platz. Er ist gut einzusehen und kreativ gestaltet. Papiere und Fotokopien sind nach farblichen sowie inhaltlichen Kriterien angeordnet. Sie enthalten Angebote von Arbeitskreisen des Stadtteilzentrums, Veranstaltungshinweise sowie meist in Briefform gehaltene Nachrichten und Geschichten von Anwohnern für Anwohner des Teutoburger
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