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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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Von einem Ende der Haltestelle trabte er zum anderen, kehrte um und trabte zurück. Er wurde immer schneller. Er imitierte dabei ein Pferdewiehern, er lachte und hüpfte und trabte an den wartenden Menschen vorüber, wobei er das Kind dazu animierte, mit seinen Händchen jedes Mal das Haltestellenschild abzuklatschen, bis das Kind völlig aufgedreht war. »Haha, das macht Spaß«, rief der Vater Thomas Frantz zu, der die Szene wie fast alle Wartenden mit ansah.
    Frantz dachte an den Sandkasten am Teutoburger Platz in seinem Viertel, an dem er sich zuweilen niederließ und die Kinder mit ihren Eltern beobachtete. Zwanzig Jahre trieben sie ab wie am Fließband. Jetzt haben sie künstliche Kinder. Kein Schritt bleibt unbeobachtet. Jeder Vater ein Kokon über seinem teuren Produkt im Sand. Invitromütter auf den Bänken: Austausch unter Hundebesitzern. Frantz erinnerte sich dagegen, wie verwahrloste, wilde Kinder in Marzahn miteinander spielten. Sein alter Büroleiter hatte ihm damals einen Auftrag für eine Hochglanzbroschüre zugeschanzt. Die in dieser Trabantenstadt dominante Wohnungsbaugesellschaft suchte einen Journalisten, der Texte über ihre Kinderbetreuungs-Initiative für diese Werbebroschüre verfassen sollte. Frantz hatte mit einigem Bauchgrimmen angenommen, die Sache war gut bezahlt. Die Initiative der Gesellschaft bestand darin, leerstehende, lattenumzäunte Kellerräume in den Plattenbauten zur Verfügung zu stellen, in denen sich die Kinder aufhalten konnten. Das kostete die Gesellschaft nichts, und die Organisation alter Sofas und ausrangierter Computer übernahmen herbeigerufene Sozialarbeiter der Stadt. Die Wohnungsbaugesellschaft investierte umso mehr Geld und Enthusiasmus in die Broschüre. Frantz sprach mit den Kindern in ihren Kellern, und er verstand: Sie sind mit fünf Jahren völlig selbstständig. Sie schauen Pornos mit acht, saufen mit neun, kiffen mit zehn, bumsen mit elf, sind lesbisch mit zwölf. Im Alter von vierzehn und fünfzehn werden sie Väter und Mütter. So ist das. Das wird mal spannend, dachte Frantz. Wenn die Wilden auf die Künstlichen treffen. Menschheit I und Menschheit II, diese Houellebecq’schen Zukunftsbegriffe, fielen ihm ein. Als die Tram in die Haltestelle einfuhr, stellte der Vater das Kind auf die Füße. Er kitzelte es am Bauch, bis es weinte.

23. Leute vom Teute. Ein türkischer Sozialarbeiter erzählt Frantz eine Geschichte vom Teutoburger Platz
    Der Teutoburger Platz ist ein kleiner quadratischer Park. Er wird begrenzt durch die Zionskirch-, Christinen-, Fehrbelliner und Templiner Straße am Prenzlauer Berg, einem der am dichtest besiedelten Gebiete der Stadt, und er ist so etwas wie eine bereits in Prenzlauer Berg-Pankow liegende karreeförmige Grenzgemarkung zu Mitte-Wedding. Der Teutoburger Platz ist ein schöner kleiner Park. Die Anwohner nutzen und pflegen ihn. Es gibt einen Spielplatz, geräumige, römisch überdachte Buchten mit Holzbänken und einem Tisch darin, ein Platzhaus mit Walmdach, eine steinerne Tischtennisplatte und einen Walfisch aus Holz. In der Mitte des Platzes die dreiteilige plastische Sandsteingruppe »Froschkönig«, ein Tröpfelbrunnen bestehend aus Sockel mit Wasseraustritt, auf dem ein Frosch sitzt, Wasserauffangbecken und hockendem Mädchen.
    Thomas Frantz ging oft auf den Teutoburger Platz. Er setzte sich auf eine der Bänke entlang der beiden Wege, die den Park durchkreuzten, und genoss die Bäume, das Leben und die Sträucher. Er sah den Kindern gern beim Spielen zu.
    Am Abend joggte er dort manchmal. Er ist nicht groß, dieser Park. Jede äußere Trottoirbegrenzung misst auf dem Maßstabsplan 77,50 Meter. Frantz lief immer darum herum und ein paarmal quer durch. Die Anwohner haben das Platzhaus liebevoll renoviert und bunt angemalt. Sie nennen ihren Platz Teute.
    Thomas Frantz bekam einen Anruf. Ein Sozialarbeiterverein wurde 25 Jahre alt und wollte eine Festschrift herausgeben. Frantz hatte in früherer Zeit einmal eine Geschichte über diesen Verein in einer Zeitung veröffentlicht. Jetzt möchte der Verein, dass er einen Beitrag verfasst, der in einem kleinen Buch erscheinen sollte. Jeder Sozialarbeiter des Vereins muss eine Geschichte beitragen. Frantz würde als Ghostwriter die Geschichte eines türkischen Sozialarbeiters aufschreiben, der diese nicht selbst schreiben wollte. 500 Euro. Das war in Ordnung. Mehr, als er für eine Story der gleichen Länge in einer Tageszeitung bekäme.
    »Na ja, es ist, wie soll ich sagen,

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