Gehwegschäden
Platzes. Diese Rubrik heißt »Leute vom Teute«. Thomas Frantz war des Öfteren vor diesem Schaukasten stehen geblieben und hatte interessiert darin gelesen.
Liebe Leute vom Teute: Am Sonntagmorgen gegen 9.30 Uhr hat ein Jugendlicher am Platzhaus im Park randaliert und sich an Gegenständen an der Frontseite des Hauses zu schaffen gemacht, sagt der Guckkasten am Teutoburger Platz. Er hat den Briefkasten eingetreten, die Zettelhalterung abgerissen, Blumenkästen zerkloppt und versucht, die Außenleuchten abzuschlagen. Er sah betrunken aus. Er hatte eine Weinflasche in der Hand, und ich konnte nicht erkennen, sagt der Guckkasten, welcher Frust ihn an diesem Ort dazu gebracht haben mochte, diese sinnlosen Zerstörungen vorzunehmen. Ich habe den jungen Mann angesprochen, ihn aufgefordert, von seinem Tun abzulassen und die Randale einzustellen. Ich bin nicht voll ins Risiko gegangen, sagt der Kasten. Ich befürchtete, er könne auch an mir seine Wut auslassen. Er hat sich dann wieder verzogen, sagt der Guckkasten. Die Beschädigungen sind leicht hinzubiegen.
Seko sitzt in der Hollywoodschaukel und nimmt seine Tochter auf den Arm. Frantz hat sich auf dem Ottomanenhockelement in einer unbequemen Haltung eingerichtet. Das Kind mochte zwischen ein und zwei Jahren alt sein. Frantz zieht sein kleines Karoheft aus seinem Rucksack und legt es auf die Glasplatte des Rattanmodultisches. Er weiß nicht recht, welche Geschichte er eigentlich für die Festschrift des Sozialarbeitervereins erzählen soll. Also will er erst mal von vorne anfangen. Chronologisch.
»Dann fang mal von vorne an. Chronologisch.«
Seko sieht ihn etwas ratlos an.
»Also, ich habe mit neunzehn angefangen, da gab es …«
»Nein, ich meine ganz von vorne«, unterbricht ihn Frantz. »Deine Geschichte. Ich will ja deine Geschichte erzählen. Wo bist du geboren, wann? Wie bist du hergekommen?«
Seko zieht an seiner Zigarette und überlegt.
»Ich will aber eine andere Geschichte erzählen. Warum ich nicht Sozialarbeiter werden wollte, und dann doch …«
»Gleich. Fang doch erst mal von vorne an.«
Seko überlegt.
»Gut. Ich bin in der Provinz Malatya geboren. Dort bin ich aber nur geboren. Meine Mutter war hochschwanger schon in Berlin, und sie hat mich in der Türkei nur geboren. Früher war das so. Dass man Kinder in der Familie zur Welt brachte. Die ältere Schwester musste das machen oder die Oma. Wir wohnten in Kreuzberg. Mein Vater arbeitete bei Osram. Meine Mutter war Hausfrau. Sie waren Ende der Sechziger nach Deutschland gekommen. Ich bin 1978 geboren. Am ersten Januar, aber das stimmt nicht. Man musste ja in die Stadt gehen, um die Geburt zu melden. Das tat man nur, wenn man gleich drei Geburten zu melden hatte, und meistens gaben sie den ersten Januar an.«
Sekos Tochter brabbelt, Seko versucht, sie durch einiges Auf-und-ab-Wippen ruhigzustellen, Frantz schreibt mit der Rechten und rührt mit der Linken Zucker in den Kaffee.
»Ihr habt alle getürkte Geburtsdaten?«
Frantz beißt sich auf die Lippen wegen des unfreiwilligen Wortspiels. Seko scheint es gar nicht bemerkt zu haben.
»Viele. Bis zur sechsten Klasse steht bei mir im Zeugnis als Geburtsdatum 0.0.1978. Keine Sau hat das interessiert. Erst auf dem Gymnasium sagte eine Lehrerin, der braucht ein Geburtsdatum. Da hat mein Vater den ersten Januar genommen. Das Jahr stimmt ungefähr.«
Das Kind brabbelt. Seko steht auf, platziert das Kind auf dem Wohnzimmerlaminat, schließt die Terrassentür und setzt sich wieder. Frantz rührt in seinem Kaffee und merkt, dass er so den Satz wieder aufwühlt. Das Kind guckt ein wenig debil durch das Glas der Terrassentür.
»Mein Radius erstreckte sich vom Schlesischen Tor bis zum Görlitzer Bahnhof. Wir wohnten in der Görlitzer Straße. Wir sind fünf Jungs und ein Mädchen, ich war der Letzte. Damals in Kreuzberg war jeder froh, wenn er nicht in Kreuzberg wohnte. Wir wohnten in einer Eineinhalbzimmerwohnung. Mit einer Toilette draußen im Treppenhaus. Wir schliefen zu siebt in einem halben Zimmer. Mit zwei großen Hunden. Ansonsten trafen wir uns im Hof. Damals haben wir Migranten ja in den Hofbereichen gewohnt, jedenfalls im Sommer. Ich glaube, sie haben dort Türkei gespielt. Die Koffer waren ja immer gepackt über dem Schrank.«
Frantz sieht von seinen Notizen auf.
»Weil es hieß, irgendwann gehen wir zurück und kaufen uns ein Häuschen?«
»Richtig. Deshalb spielte auch Schule und Bildung und so weiter keine Rolle.«
Frantz notiert
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