Gehwegschäden
das. Bildung keine Rolle.
»Aber ihr seid in die Schule gegangen?«
»Ja. In die Ausländerregelklasse. Ich bekam als Einziger die Gymnasialempfehlung. Ich war der Beste gewesen, hatte aber auf dem Gymnasium keine Chance.«
Seko schüttelt den Kopf. Das Kind sitzt vor der geschlossenen Terrassentür, sieht hinaus und fängt an zu quengeln.
Frantz fragt, wie das Kind heißt.
»Amina. Das bedeutet auf Türkisch Vertrauen. Bei meiner ersten Drei minus fing ich an zu weinen. Die deutschen Kinder hatten schon Englisch, Pythagoras und Hölderlin, keine Chance. Ich wurde ein mittelmäßiger Schüler, da musste ich mich mit abfinden. Ich hab ungefähr mit neunzehn Abitur gemacht.«
Frantz hustet.
»Okay. Und wie bist du dann Sozialarbeiter geworden?«
»Ich sollte Rechtsanwalt werden. Oder Arzt. Mein Vater kam ein einziges Mal zu meiner Schule, an dem Tag, an dem ich mein Abizeugnis bekam. Er fragte mich: Was bist du denn jetzt? Arzt oder Rechtsanwalt? Er war dann entsetzt, dass ich noch sechs Jahre hätte studieren müssen. Ich hatte aber nur einen Schnitt von 3,4 und wollte auch gar nicht studieren. Ich hab im Penny-Markt gejobbt. Ziemlich lang. Irgendwann hab ich gemerkt: Ich öffnete den Laden, es war dunkel, ich schloss den Laden, es war dunkel. Dann ging ich da raus. Ich wollte alles werden, aber bloß kein Sozialarbeiter. Da verdient man kein Geld.«
Frantz klickt gedankenverloren an seinem Kugelschreiber herum.
»Wann war das ungefähr?«
»So vor zwei, drei Jahren. Ich hab sogar überlegt, als Krankenpfleger zu arbeiten. Beim Arbeitsamt kam bei meinen Eigenschaften aber immer Sozialarbeiter raus. Gut. Habe ich eben Soziologie als NC-freies Nebenfach belegt und Bafög beantragt, weil ich das zu Hause abgeben konnte. Da stand dann am Schwarzen Brett: Ein Sozialarbeiterverein suchte Honorarkräfte. Da bin ich hin. Der Stundenlohn war zwanzig Euro. Ich hab gesagt: Seid ihr gesund? Zwanzig Euro? Ich sah schon Dollarzeichen vor meinen Augen.«
Sekos Handy klingelt. Seko sagt etwas auf Türkisch, legt wieder auf.
»Ich nahm mit den Jugendlichen dort Kontakt auf. Die Jugendlichen hatten keinen guten Draht zu den Sozialarbeitern, das waren alles Deutsche. Aber auf mich hörten sie irgendwie. Das andere war: Meine Brüder waren ja auch in einer Gangstruktur, ich kannte das. Und die kannten mich, weil sie meine Brüder kannten. Aus den Kiezen. Die movten alle immer hin und her zwischen den Kiezen.«
»Moment«, unterbricht Frantz. »Wo sind wir jetzt bitte?«
»Am Teutoburger Platz.«
»Am Teutoburger Platz. Das ist jetzt die Geschichte, die du erzählen willst? Warum du Sozialarbeiter werden wolltest?«
»Ja. Nein. Warum ich gleich wieder aufhören wollte.«
Frantz macht einen Kringel um ein Wort.
»Jetzt will ich aber die Geschichte erzählen, okay?«
Seko kräuselt seine dichten Augenbrauen. Er lehnt sich zurück. Die Hollywoodschaukel quietscht.
»Also das Projekt lief aus, nach zwei Monaten. Mein Job. Es fehlten die Gelder. Aber die Jugendlichen fragten nach mir. Und der Kollege holte irgendwo zusätzliche Gelder. Die sagten: Du kriegst festen Lohn. Ohne Studium? Ja, ohne Studium. Da es ein Sonderprojekt war, setzten die mich durch. Das war mein Einstieg.«
Sekos Tochter weint. Seko steht auf, öffnet die Terrassentür, hebt seine Tochter hoch, setzt sich in die Hollywoodschaukel und nimmt das Kind auf den Schoß.
»Ich will jetzt diese Geschichte erzählen, die sowohl mein Einstieg war als auch beinahe mein Ausstieg und die mich jahrelang gequält hat.«
»Diese Geschichte spielt also am Teutoburger Platz?«
»Richtig.«
»So vor zwei, drei Jahren?«
»Richtig. Geht aber bis jetzt.«
»Dann fang an.«
Liebe Leute vom Teute: Wir lassen uns nicht beeindrucken, sagt der Guckkasten am Teutoburger Platz. Als wir uns mit unserem Antrag »Mehr Sicherheit im Verkehr am Teutoburger Platz« für geschwindigkeitssenkende Maßnahmen einsetzten, wurden in der Fehrbelliner Straße Geschwindigkeitsmessungen der Polizei durchgeführt. Die Polizei stellte aber keine Geschwindigkeitsüberschreitungen fest. Davon habe ich mich nicht beeindrucken lassen und selbst Geschwindigkeitsmessungen am Teutoburger Platz vorgenommen, sagt der Guckkasten. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die polizeilichen Geschwindigkeitsmessungen kein realistisches Bild zeichnen. Sogar die durch überhöhte Geschwindigkeit verursachten Unfälle werden in den Statistiken der Polizei erheblich unterschätzt, sagt der Guckkasten. Ausführlich
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