Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
des Tages reichlich mit Arbeit versehen werden, denn sobald er einen unbeschäftigten Augenblick hat, geht er ins Archiv und zieht allerlei längst abgewickelte Vorgänge aus dem Regal, die er unbemerkt erneut in die Verwaltung eingibt. Schon vor Jahren quittierte Rechnungen erscheinen dann wieder bei der Buchhaltung, seit langem verschickte Briefe werden erneut zur Unterzeichnung vorgelegt. Zur weiteren Komplikation trägt bei, dass der bewusste Angestellte ursprünglich Archivar ist und so ziemlich der Einzige im ganzen Unternehmen, der sich in den riesigen Archiven auskennt. In den Kellern, in denen diese aufbewahrt sind, irrt er nachts wie ein Schlafwandler herum und blättert murmelnd in Akten, deren Existenz jeder Einzelne in der Organisation längst vergessen hat. 27
Ersetzt man die Briefe und Rechnungen durch Bilder, das Archiv durch das visuelle Gedächtnis, die Buchhaltung durch die Wahrnehmung, die stillen nächtlichen Stunden durch ein optisches System, das kaum noch Reize durchlässt, so hat man eine anschauliche Vorstellung vom Bonnet-Syndrom, Version sensorische Deprivation.
Es gibt ein paar Beobachtungen, die für diese Hypothese sprechen. Die Bonnet-Bilder erscheinen meist unter ruhigen Umständen, zu Hause, in vertrauter Umgebung. Wenn Lullin die Bilder sehen wollte, ging er in ein stilles Zimmer und wartete gelassen, bis sie kamen. Bonnet-Bilder neigen auch dazu, bei einer Aufnahme ins Krankenhaus oder einer anderen Veränderung der alltäglichen Routine zu entschwinden. Aber es gibt auch Befunde, die nur sehr schwer mit der Hypothese der sensorischen Deprivation zu vereinbaren sind. Als Allererstes ähneln Bonnet-Bilder nicht den >normalen< Halluzinationen bei sensorischer Deprivation. Bonnet-Bilder sind häufig vollständig ausgeformt, sie erscheinen vom einen Moment auf den anderen. Halluzinationen beginnen als schlichte sensorische Wahrnehmungen und brauchen Zeit, um sich zu einem Bild zu entwickeln. Bonnet-Bilder werden häufig schärfer gesehen als echte visuelle Sinneseindrücke, Halluzinationen fehlt diese Klarheit meistens. Bonnet-Bilder werden als fiktiv erkannt, Halluzinationen führen gerade zu Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung. Schlichtweg im Gegensatz zur Logik der sensorischen Deprivation steht, dass die meisten Menschen Bonnet-Bilder verschwinden lassen können, indem sie ihre Augen schließen. Halluzinationen gehen gerade dadurch weg, dass man die Augen öffnet. Auch der Moment, in dem das Bonnet-Syndrom entsteht und wieder vergeht, ist unlogisch, wenn man von dieser Hypothese ausgeht. Die Bilder erscheinen zum ersten Mal bei einem Rückgang des Sehvermögens und verschwinden meist wieder bei vollständiger Blindheit.
Der Wegfall externer Reize ist auch der Kern einer zweiten Hypothese, welche die Erklärung in der eigenen Gehirnaktivität sucht. 28 Der allgemeine Mechanismus ist als release oder >Frei-setzung< bekannt und wurde bereits in den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts von dem Neurologen Hughlings Jackson ins Spiel gebracht. Für Jackson war das menschliche Nervensystem eine Sammlung hierarchisch geordneter Einheiten. Höhere Einheiten, die evolutionär später entstanden waren, konnten die Aktivität niedrigerer Einheiten unsichtbar machen oder sogar ganz verhindern. Wenn die Kontrolle aufgrund einer Beschädigung oder eines zeitweiligen Ausfalls wegfiel, wurde die Aktivität niedrigerer Einheiten freigesetzt. Wendet man die Releasetheorie auf das Bonnet-Syndrom an, wie es der Augenarzt Cogan getan hat, so weist nach dieser Theorie ein Teil des visuellen Systems eine spontane Aktivität auf, die unter normalen Umständen zu schwach ist, um in das Bewusstsein zu dringen. 29 Die Bilder >von innen heraus< bleiben durch die kontinuierliche Zufuhr externer Bilder unsichtbar. Gerät aber die Zufuhr ins Stocken, sind sie stark genug, um bemerkt zu werden. Star, Blutungen, eine gelöste Netzhaut sind Vorhänge, die den Saal für die Projektion der Bilder verdunkeln, die das Gehirn selbst herstellt. Bonnet-Bilder sind Fragmente aus einem Stummfilm für Fast-Blinde.
Doch leider gelten die Einwände gegen die Hypothese der sensorischen Deprivation auch für die Releasetheorie. Die meisten Menschen sehen ihre Bonnet-Bilder mit offenen Augen, und sie verschwinden, wenn sie die Augen schließen. Sobald sie erblindet sind, wenn die Verdunkelung also maximal ist, sind auch die Bon-net-Bilder nicht mehr da. Nach der Releasetheorie müssten sie gerade dann am schärfsten
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