Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
Vom Netzwerk:
sein.
    »BLEIB BEI MIR, HERR! DER ABEND BRICHT HEREIN«
    Obwohl auch Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn im Alter oder durch Krankheit an Schärfe verlieren können, wurden in der Fachliteratur keine Tast-, Geschmacks- oder Geruchshalluzinationen beschrieben, die dem ähneln, was Bonnet-Bilder für das Auge sind. Das Gehör jedoch kennt sie: >akustische Bonnet-Bilder<, Musikhalluzinationen bei Menschen mit zunehmender Schwerhörigkeit. Das noch namenlose Syndrom ist seltener als das Bonnet-Syn-drom, aber im vergangenen Jahrhundert haben Neurologen und Psychiater einige Dutzend Fälle von Menschen mit Gehörproblemen beschrieben, die gerade an dem Punkt, als sie nahezu taub waren, anfingen, Musik zu hören. Diesen >Musikhalluzinationen< ging meist eine Zeit des >Tinnitus< voraus, ein anhaltendes Zischen, Flöten, Piepen, Brummen oder Rauschen im Ohr. 30 Genau wie beim Bonnet-Syndrom sind die meisten Menschen schon älter, über sechzig jedenfalls. Sie tragen häufig schon ein Hörgerät. Die Halluzinationen können so deutlich sein, dass die Patienten anfangs glauben, dass irgendwo ein Radio eingeschaltet ist, oder - in älteren Veröffentlichungen - dass gerade ein Spielmann in die Straße eingebogen ist. In den Fällen, über die berichtet wird, sind Frauen im Verhältnis von vier zu eins überrepräsentiert. Auffällig ist, dass in den Halluzinationen fast immer Musik erklingt und kaum gesprochener Text, was zugleich ein deutlicher Unterschied zu Halluzinationen ist, die einen psychiatrischen Ursprung haben: Dabei handelt es sich oft um >Stimmen<, die bedrohliche oder beleidigende Dinge äußern.
    Welche Art von Musik hören diese Menschen? Zwei Psychiater sammelten dreißig Patienten mit Musikhalluzinationen, die man an einen geriatrischen Dienst in Südwales überwiesen hatte. 31 Die Gruppe bestand überwiegend aus Frauen (87 Prozent) im fortgeschrittenen Alter (im Durchschnitt 78 Jahre), die allein lebten (77 Prozent). Eine von drei Frauen hatte Hörprobleme. Die Halluzinationen bestanden in zwei Dritteln aller Fälle aus geistlichen Liedern: Psalmen, Gesängen, Weihnachtsliedern. Das Lied »Abide with me« wurde sechsmal genannt, »Silent night« und »Hark! The Herald Angels Sing« je zweimal. 32 Auf dieser halluzinatorischen Hitliste kamen auch die Nationalhymnen von Großbritannien, Wales und den Vereinigten Staaten vor. Nichtreligiöse Lieder waren eher die Ausnahme (»Danny Boy«), nur ein einziger Titel gehörte zum leichteren Genre (»How much is that Doggy
    »Bleib bei mir, Herr! Der Abend bricht herein« 39
    in the Window«). Auffällig ist, dass neuere Musiktitel fehlten. Nach Verabreichung antipsychotischer Medikamente verschwanden die Halluzinationen bei fast allen. Dass die Halluzinationen oft auf Musik von früher verwiesen, aus Zeiten, als die Patienten noch Kinder waren, wurde auch in einer anderen Studie bestätigt. Ein Fünfundsiebzigjähriger hörte Psalmen, die er früher selbst im Kirchenchor gesungen hatte. 33 Die Halluzinationen waren so hartnäckig, dass ihm manchmal kaum etwas anderes übrig blieb, als mitzusingen. Es half nicht einmal, wenn er das Radio laut drehte. Eine Dreiundachtzigjährige hörte in ihrem rechten Ohr ein Medley irischer Jigs und Weihnachtslieder. Sie hörte die Melodien, jedoch nicht die Texte. Die Halluzinationen waren so klar, dass sie deswegen manchmal nicht einschlafen konnte. Sie merkte, dass sich die Musik beschleunigte, wenn ihr Herzschlag nach dem Einträufeln von Augentropfen vorübergehend schneller wurde.
    Für die Musikhalluzinationen führte man dieselben Erklärungen an wie für das Bonnet-Syndrom, und sie führten auch zu denselben Kontroversen. Manche Neurologen siedeln den Ursprung der Halluzinationen im Hörorgan an, andere im Gehirn. Für Letzteres spricht, dass ab und zu auch Musikhalluzinationen ohne vorherigen Schaden am Gehör auftreten. Eine sechsundsechzigjährige Frau hörte auf einmal die amerikanische Nationalhymne und eine Achtzigjährige italienische Opern. Keine der beiden Frauen hatte Hörprobleme, bei ihnen schienen die Halluzinationen eine Folge neurologischer Schäden durch die Lyme-Krankheit (Borreliose) zu sein. 34 Die Behandlung mit Antibiotika machte der Musik ein Ende. Des Weiteren wurden Musikhalluzinationen ohne Taubheit nach Infektionen und Syphilis beschrieben. Meist sind Schäden in der rechten Hirnhälfte vorhanden, was auch auf der Hand liegt, weil diese Hemisphäre bei den meisten Menschen für die auditiven

Weitere Kostenlose Bücher