Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Glaukom, Entzündungen, Blutungen in der Netzhaut, Ablösung der Netzhaut - jedes dieser Leiden kann Verzerrungen in der Wahrnehmung verursachen. Gegenstände erfahren eine groteske Verformung, ein einzelner Lichtpunkt erscheint vervielfacht, Konturen erhalten vier oder fünf zusätzliche parallele Linien, um Lichter entstehen bunte Auren, gestaltlose Sprenkel fliegen gemeinsam auf. Die Physiologen Helmholtz und Purkinje hatten schon im neunzehnten Jahrhundert festgestellt, dass elektrische oder mechanische Stimulation des Auges spezifische subjektive Bilder hervorruft wie rotierende Scheiben, Sterne und Gitter aus horizontalen und vertikalen Linien. Dabei scheint die Retina für manche visuellen Muster wie Kreise oder gerade Linien empfänglicher zu sein als für andere. Auch wenn kein Druck auf das Auge ausgeübt wird, können merkwürdige optische Effekte entstehen. Unter bestimmten Beleuchtungsumständen sieht das Auge Teile von sich selbst: Gegenstände, die in der Augenflüssigkeit schweben oder sogar einen Teil des reich verzweigten Gefäßsystems der Netzhaut, das dann als Baum erscheint. Der Arzt Horowitz war der Auffassung, visuelle Halluzinationen hätten ihren Ursprung in einem >Verhandlungsprozess< zwischen Auge und Gehirn, wobei »das Auge dem Gehirn berichtet, was es sieht, und das Gehirn dem Auge sagt, wonach es suchen soll, was es sehen müsste und was es in dem, was es gesehen hatte, nicht sehen sollte«. 25 Bonnet-Bilder kamen in diesem Artikel nicht zur Sprache, aber der Zusammenhang wurde später wiederholt hergestellt: das Bonnet-Syndrom beruhe auf dem allzu freien Umgang des Gehirns mit den ernsthaft verzerrten und verformten Informationen, die die Augen weitergäben.
Dass Bonnet-Bilder das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Auge und Gehirn sind, passt zu der Auffassung, dass das Gehirn ein Instrument ist, das dazu entworfen wurde, Ordnung im Chaos zu sehen, Muster im Zufall, Informationen im Geräusch, sogar wenn das Angebot wirklich aus Chaos, Zufall und Geräuschen besteht. Sich fortbewegende Sprenkel gibt es nicht; was das Gehirn betrifft, so wird dies ein Taubenschwarm sein, der sich in die Lüfte schwingt. Ein blauer Schleier mit gelben Punkten, der sich mit dem Auge bewegt - ein Taschentuch möglicherweise ? Zumindest ein Teil der Bonnet-Bilder passt zu der Hypothese, das Gehirn komme dem Reiz mit einer Vermutung entgegen und >sehe< anschließend genau diese Vermutung. Bonnet-Bilder wären eine krasse Demonstration des wahrnehmungspsychologischen Gesetzes, dass das Gehirn wahrnimmt, was es für wahr nimmt. Aber der überwiegende Teil der Bonnet-Bilder scheint selbst allzu reich an Mustern, um sie als zufällige Transformationen aufzufassen. Junge Männer, die mit Silber abgesetzte Hüte tragen, j unge Damen mit Zigarrenkistchen auf dem Kopf, Mädchen mit bunten Bändern und Perlenketten, ganze Landschaften mit stiebenden Springbrunnen - was auch immer in hochbetagten Augäpfeln an
Teilchen schweben mag, Bilder wie diese scheinen zu komplex, um sie als zerebrale Bearbeitung elementarer optischer Reize zu betrachten. Und haben sie nicht auch eine gewisse Ähnlichkeit mit den Bildern, die sich im Moment des Einschlafens zeigen? Könnten sie nicht auch vollständig aus dem Gehirn selbst stammen?
Die Hypothese der >sensorischen Deprivation< sieht den Ursprung der Bonnet-Bilder in einer lang anhaltenden Unterreizung des Gehirns. Schon länger war bekannt, dass extrem monotone Reize Halluzinationen verursachen können. Menschen in Isolationshaft, Polreisende und Alleinsegler haben davon berichtet. In einer Untersuchung über sensorische Deprivation wurden sie auch unter Laborbedingungen reproduziert. 26 Der Ausschluss von Sinnesorganen oder ihre >Betäubung<, indem man ihnen immer wieder denselben Reiz anbietet, so zeigt sich in Experimenten, bedeutet nicht, dass das Gehirn seine verarbeitende Aktivität vollkommen einstellt. Nach einiger Zeit beginnt es, Wahrnehmungen zu produzieren, Bilder, Tastempfindungen, die für die Person selbst von außen zu kommen scheinen und dadurch nur schwer von echten Reizen zu unterscheiden sind. Das menschliche Gehirn verträgt keine absolute Ruhe. In Een kuil om snikkend in te vollen (Eine Grube, in die man schluchzend fällt) vergleicht Rudy Kousbroek das Gehirn mit einem großen Handelsunternehmen oder einem Ministerium, das einen außergewöhnlich geschäftigen und monomanen Angestellten am Hals hat:
Er muss unablässig beschäftigt und zu jeder Stunde
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