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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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blockierenden und hemmenden Teilen handelte. Bei Krankheit und Verletzung, schrieb Jackson, trete >Dissolution< auf, das Gegenteil von Evolution: Wenn die höheren Funktionen angegriffen seien, falle das Gehirn auf ein primitiveres Funktionsniveau zurück. Diesen Begriff hatte Jackson von dem Philosophen Herbert Spencer übernommen 27 , und in seinen Formulierungen mäandert er unnachahmlich zwischen Neurologie und Politik:
    Die höheren Nervenstrukturen, die sich aus den niedrigeren entwickeln, halten diese niedrigeren klein, genau wie eine Regierung, die sich aus einem Staat entwickelt hat und ihn sowohl beherrscht als auch steuert. Handelt es sich dabei um einen Prozess der Evolution, dann ist der umgekehrte Prozess der Dissolution nicht nur ein >Verschwinden< dieser höheren Strukturen, sondern auch ein >Machen-lassen< der niedrigeren. Sollte der Regierungskörper dieses Landes plötzlich vernichtet werden, würden wir zwei Dinge betrauern: 1. den Verlust der Dienste herausragender Männer und 2. die Anarchie des nun nicht länger im Zaum gehaltenen Volkes. Der Verlust des Regierungskörpers stimmt mit der Dissolution in unserem Patienten überein (die Erschöpfung der beiden obersten Schichten seiner höchsten Zentren); die Anarchie stimmt mit der nun nicht länger beherrschten Aktivität des angrenzenden niedrigeren Niveaus der Evolution überein (dritte Schicht). 28
    Woher kommt diese Obsession von Kontrolle und Beherrschung? Der Wissenschaftshistoriker Roger Smith hat in einer großartigen Studie zum Begriff >Inhibition< gezeigt, dass Jackson ein Beispiel für einen ausgesprochen viktorianischen Denkstil ist. 29 Evolution wurde als Entwicklung höherer Lebensformen aus niedrigeren verstanden, was hieß, dass >neu< wie selbstverständlich den Status >höher< bekam. Diese biologische Hierarchie beschrieb man in denselben Begriffen und Metaphern wie soziale und politische Hierarchien, mit höheren Zentren, die steuern, leiten und herrsehen. Zudem fand sich diese Hierarchie als ordnende Struktur auch innerhalb der Organismen: Auch das menschliche Nervensystem hatte evolutionär ältere und neuere Teile. Der zuletzt hinzugekommene Teil, der präfrontale Cortex, wurde damit zum Sitz für die höchsten psychischen Funktionen, er war das >organ of the mind<, ein delikates Instrument, leicht zu stören und unverzichtbar für das geistige Gleichgewicht. In der Neurologie bekamen Hierarchien - ob sie nun zwischen hohen und niedrigen Teilen oder der dominanten und der untergeordneten Hemisphäre bestanden - durch die Wissenschaft eine neue Autorität. Nach einem Leben voller klinischer Studien, die jede für sich darauf hinzuweisen schienen, dass das Einbrechen hierarchischer Verhältnisse zu Pathologie, Verwirrung, Raserei, Aggression, Fluchen oder, wie bei Dr. Z., zu unverschämten Handlungen führte, konnte Jackson fast nicht anders als zu dem Schluss kommen, dass dem Hirn und der Gesellschaft nutzten, was sowieso als tief verwurzeltes viktorianisches Ideal galt: Disziplin.
    DAS GEWEBE DER SPRACHE
    Jackson las gern über neurologische Experimente wie die elektrische Reizung der Hirnoberfläche von Hunden oder Affen, hat jedoch dem Impuls, selbst Experimente durchzuführen, stets widerstehen können. Auch die mikroskopische Untersuchung von Hirngewebe überließ er gern anderen. Seine Stärke lag in der klinischen Beobachtung, der Fallstudie; ab und zu, wenn es der Todeszeitpunkt zuließ, wohnte er auch einer Posf-morfem-Untersu-chung des Gehirns bei. Doch das hat der Wertschätzung seiner Arbeit keinen Abbruch getan. 1878 wurde er zum Fellow der Royal Society ernannt. Im selben Jahr war er Mitbegründer von Brain, der auch heute noch führenden Zeitschrift in der Neurologie. Bei der Gründung der Neurological Society im Jahr 1886 wurde Jackson zum Präsidenten gewählt.
    Einige seiner Beobachtungen, diagnostischen Zeichen und Erklärungsprinzipien findet man noch in der heutigen Neurologie.
    Das >Release-Phänomen<, der Gedanke, dass ein Prozess aktiv werden kann, weil Kontrolle oder Hemmung von oben wegfallen, hat auch heute noch außerhalb der Epilepsieforschung viele Anhänger. Die visuellen Bilder beim Bonnet-Syndrom und deren akustische Variante werden als >Release-Phänomen< beschrieben, und dasselbe gilt für die Tics und das Fluchen beim Syndrom von Gilles de la Tourette. Auch Träume hat man als Ergebnis der nächtlichen Enthemmung primitiverer Gehirnteile wie dem Hirnstamm erklärt. Ein makabres

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