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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Release-Phänomen ist die Erektion bei Gehängten: Die Aktivität der Nervenstruktur, die die Schwellung reguliert, wird unter normalen Umständen durch hierarchisch höhere Strukturen gehemmt. Jackson selbst betrachtete Automatismen wie die von Dr. Z. als Paradebeispiel für Handlungen, die durch den Ausfall der Kontrolle entstehen, aber ausgerechnet bei diesen Phänomenen ist auch nach der Erfindung der Elektroenzephalographie (EEG) und bildgebender Techniken noch immer unklar, ob sie tatsächlich auf dem >Release< von Mechanismen beruhen, die sonst nicht aktiv wären, oder auf direkter Aktivierung neurologischer Stromkreise. 30 Dieselbe Untersuchungsmethode machte jedoch deutlich, dass >dreamy-state<-artige Symptome tatsächlich meist mit einer Temporallappen-Epilepsie Zusammenhängen.
    Die moderne Aphasieforschung scheint in vielerlei Hinsicht besser zu Jackson als zu Broca zu passen. Dem Historiker der Neurologie Israel Rosenfield zufolge ist in der Zeit von Broca und Wernicke mit den Theorien über Hirn und Geist etwas gründlich schiefgegangen. 31 Mit der Entdeckung der Lokalisierung von allerlei Funktionen wurde der Mythos geschaffen, das Gehirn sei ein Mosaik aus >Zentren<, von denen jedes mit einer festen Funktion oder einem spezifischen Gedächtnis verbunden sei, wie das für Wörter oder Bewegungen. Dieser Mythos hat der Vorstellung Vorschub geleistet, das Gehirn sei etwas Mechanisches oder - ein Jahrhundert später - gar mit einem Computer zu vergleichen: das Gehirn als Apparat mit festen Stromkreisen und Programmen. Alles, was wir denken und erleben, wird im Datenbestand unseres Gehirns gespeichert, wie eine Sammlung von Bits in einem neuronalen Register. Rosenfield hat versucht, diesen Mythos anhand einiger berühmter Fallstudien aus der Welt zu schaffen, indem er beispielsweise Brocas >Monsieur Tan< neu analysierte. Er wies auf die Details hin, die gerade den Schluss nahelegen, dass die Störung einer Person, die, sagen wir, nicht lesen kann, was sie gerade selbst geschrieben hat, nicht die Folge einer isolierten verlorenen Funktion ist, sondern des Unvermögens des Patienten, seine Funktionen zu koordinieren. All diese revidierten Fallstudien führen stets zu demselben Ergebnis: Es ist kein spezifisches >Zentrum<, das verloren geht, sondern die Fähigkeit, Wörter, Bilder und Klänge zu einem Ganzen zu integrieren, das etwa im emotionalen Kontext eines Gesprächs von Bedeutung ist. Rosenfield hat für diese Auffassung Unterstützung gesucht und sie bei Jackson und seinen fluchenden und schimpfenden Aphasiepatienten gefunden. Wenn Aphasie wirklich auf der Löschung des Gedächtnisses für Wörter beruht, ist es ein vollkommenes Rätsel, warum gerade solche Wörter übrig bleiben. Wie Jackson sieht er selbst die Erklärung in der Tatsache, dass die Bedeutung von Fluchen und Schimpfen unabhängig vom Kontext existiert; wir fluchen um des Fluchens willen, nicht um etwas Spezielles damit auszudrücken. Wir brauchen also die Wörter nicht mehr mit einer Bedeutung zu kombinieren, bevor wir sie aussprechen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass bei Jacksons Frau, die »Feuer!« rief, nun ausgerechnet dieses eine Wort ihres Wortschatzes die Verheerung durch ihre Hirnverletzung überlebt hatte; es ist viel eher denkbar, dass die Emotionen und die Aufregung vorübergehend den Kontext lieferten, in den die Frau Wort und Bedeutung integrieren konnte. Kaum hatte sie sich wieder beruhigt, war das Wort >Feuer< genauso unerreichbar wie zuvor. Für Rosenfield ist Jacksons Interpretation von Sprache als Gewebe aus Denken, Emotionen, Klängen und Bewegungen ein willkommenes Argument gegen eine allzu mechanistische Vorstellung vom menschlichen Gehirn.
    Dieser Griff in Jacksons Werk demonstriert ganz beiläufig auch die Willkür, mit der sich Neurologen der Theorien und Befunde ihrer Vorgänger bedient haben. Wenn heute der Releasebegriff verwendet wird, geschieht es stets mit dem Hinweis auf
    Jackson, aber ohne die politisch-sozialen Assoziationen, die bei ihm mit den hemmenden und enthemmenden Prozessen verbunden waren. Auch die strengen moralischen Qualifikationen, die Jackson mit der Aktivität von Hierarchien >höherer< Hirnstrukturen oder der ruhigen, vernünftigen Leitung der linken Hemisphäre über ihre zu unberechenbaren emotionalen Ausbrüchen neigende Gegenseite verband, spielen keine Rolle mehr. Neurologen betreiben noch immer Politik mit ihrem Fach - darauf wird im Schlusskapitel noch zurückzukommen sein -,

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