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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Außenwelt, weil er immer unfähiger wird, die Eindrücke seiner Umgebung aufzufassen, und das wenige, was er noch aufnimmt, mit seiner Persönlichkeit in Beziehung zu bringen. Auch über sein Ich verliert er bald jede Beobachtung, jegliches Urteil.« 10 Was er über das Endstadium sagte, hätte er auch über einen dementen Patienten schreiben können: »Seine Merkfähigkeit wird stumpf, seine alten Erinnerungen und Erfahrungen klingen nicht mehr an und zerfallen, seine Interessen schmelzen zusammen. Von seiner früheren Persönlichkeit ist nichts mehr übrig.« 11 Schließlich erliegt der Patient der Agitation, den Wahnvorstellungen, dem Gedächtnisverlust und den Lähmungen. Alzheimer reicht den Bericht als Habilitationsschrift ein und erhält so die >venia legendi<, die Befugnis, an der Universität zu lehren. Sie wird ihm im Sommer 1904 verliehen. Ein paar Monate zuvor war Gilles de la Tourette in einer Schweizer Anstalt an den Folgen von Syphilis gestorben.
    Am ersten Weihnachtstag 1904 überraschte Alzheimer seine Kinder mit der Mitteilung, sie führen nach Weßling am See, wo sie im Sommer ihre Ferien verbracht hatten. Erstaunen ringsum: nach Weßling, jetzt im Winter? Hans Alzheimer erzählte später, wie der Vater mit der ganzen Familie die Dampfeisenbahn nach Weßling nahm, wie die Kinder im Schnee um den gefrorenen See stapften und wie sie schließlich bei einer großen Tür ankamen. Der Vater rüttelte an der Klinke: verschlossen. Aus seiner Tasche fischte er einen großen Schlüssel: »Wollen doch mal sehen, ob er passt!« 12 Die Kinder schauten mit offenem Mund zu, wie die Tür quietschend aufschwang. Dahinter verbarg sich eine moosbewachsene Steintreppe, und oben an der Treppe sahen sie im strahlenden Winterlicht, was der Vater offensichtlich gekauft hatte: eine riesige weiße Villa mit Garten, Nebengebäuden und Bootshaus. Die Alzheimers sollten dort viele Wochenenden und Ferien verbringen, häufig mit den Familien von Onkeln und Tanten, die gastfreundlich empfangen wurden. Das Haus befindet sich noch immer im Familienbesitz.
    KNÄUEL UND PLAQUES
    Im April 1906 erhält Alzheimer einen Anruf aus Frankfurt: Auguste Deter ist gestorben. Er bittet nicht nur um ihr Gehirn, sondern auch darum, ihm ihre Krankenakte zu schicken. Sie umfasst etwa dreißig Seiten. Alzheimer liest seine eigenen Anmerkungen noch einmal durch und rekonstruiert einen Verlauf, der auch heute noch als charakteristisch für Patienten mit dieser Krankheit gilt. Ihr Gedächtnis hatte nachgelassen, sie irrte ruhelos durchs Haus und versteckte Sachen, die sie nicht wiederfinden konnte. Beim Kochen wusste sie nicht mehr, was sie tun musste. Nach der Aufnahme hatte ihre Desorientierung noch zugenommen. Sie dachte, sie wäre in Kassel (wo sie geboren wurde), meinte, dass Alzheimer bei ihr zu Hause zu Besuch wäre (»Mein Mann kommt auch gleich!«), wusste nicht, in welchem Jahr sie lebte und wie lange sie schon in der Anstalt weilte. Sie sagte, sie habe eine Tochter von 52 Jahren, und berichtete kurz darauf, sie selbst sei 56, ohne dass ihr diese Absurdität auffiel. Die wörtlichen Berichte der Befragungen machen deutlich, dass viele Automatismen noch eine Zeit lang intakt blieben. Sie konnte die Namen der Monate fehlerlos aufsagen, aber nach dem elften Monat gefragt, wusste sie keine Antwort. Auf die Frage: »Wie viel ist 9 mal 7?« folgte: »63«, aber auf die Frage: »Wenn Sie sechs Eier kaufen, das Stück zu sieben Pfennig, was macht das dann?«, antwortete sie: »Pochieren.« Oft tastete sie wie blind um sich und griff anderen Patienten dabei ins Gesicht. Vor allem gegen Abend wurde sie von einer ängstlichen Unruhe gepackt und irrte durch die Säle, ihr Bettzeug um sich gewickelt. Manchmal gab es trotz der Non-Restraint -Politik keine andere Möglichkeit, als sie in einer Isolierzelle einzuschließen. Alzheimer muss schon früh die Bedeutung ihres Falles erkannt haben. Neben der überreichlichen Dokumentation und den Fotos, die der Anstaltsfotograf auf seine Anweisung von ihr gemacht hatte, enthält die Akte einen Briefwechsel, in dem sich Sioli gegen Augustes Überweisung in eine andere Anstalt wehrt. Alzheimer hatte ihm bei seinem Weggang ans Herz gelegt, die Entwicklungen genau zu verfolgen. Er wollte nicht das Risiko einge-hen, dass man Auguste begrub, ehe er von ihrem Tod hörte. Ein paar kurz gefasste Aufzeichnungen dokumentieren ihre letzten Tage. Vom 6. auf den 7. April 1906: war sehr benommen, ab und zu jammern und

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