Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
transpirieren. Am 7. April: den ganzen Tag sehr benommen, Temperatur mittags 41 Grad, abends 40 Grad. Am 8. April: - gestorben um Viertel vor fünf morgens. Todesursache: Blutvergiftung infolge von Durchliegen.
Im Brief an Sioli, in dem er sich für das Gehirn und die Krankenakte bedankt, vermeldet Alzheimer, dass er beabsichtige, im November 1906 in Tübingen einen Vortrag über den Fall Auguste zu halten, und zwar auf einem Regionaltreffen von Psychiatern und Neurologen. Diesen Vortrag hat er gehalten - es wurde eine Enttäuschung.
Aus dem Vortragstext, der 1907 in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie erschien, wird deutlich, dass Alzheimer in Tübingen zunächst das klinische Bild präsentierte, wie er es selbst noch
in Frankfurt beschrieben hat. 13 »In der Anstalt trug ihr ganzes Gebaren den Stempel völliger Ratlosigkeit. Sie ist zeitlich und örtlich gänzlich desorientiert. Gelegentlich macht sie Äußerungen, dass sie nicht alles verstehe, sich nicht auskenne. Den Arzt begrüßt sie bald wie einen Besuch und entschuldigte sich, dass sie mit ihrer Arbeit nicht fertig sei, bald schreit sie laut, er wolle sie schneiden, oder sie weist ihn voller Entrüstung mit Redensarten ab, welche andeuten, dass sie von ihm etwas gegen ihre Frauenehre befürchte. Zuweilen ist sie völlig delirant, schleppt ihre Bettstücke umher, ruft ihren Mann und ihre Tochter und scheint Gehörshalluzinationen zu haben. Oft schreit sie viele Stunden mit grässlicher Stimme.« 14 Die Sektion hatte ergeben, dass sich große Teile der Hirnrinde zurückgebildet hatten. Alzheimer zeigt verschiedene Präparate auf Dias und weist auf die Abweichungen hin, die er im Nervengewebe vorgefunden habe. Seltsame knäuelartige Schlingen und Eiweißablagerungen. Einige dieser Schlingen hat er nachgezeichnet. Diese Abweichungen, sagt Alzheimer, passten nicht in die vorhandenen Krankenkategorien. Alles weise darauf hin, dass hier von einer noch unbekannten Krankheit die Rede sei, und hoffentlich würden weitere neuropathologische Untersuchungen helfen, diese Krankheit stärker einzugrenzen.
In Tübingen sind so zum ersten Mal vor einem Kollegenpublikum die Missbildungen zu sehen, die noch immer als >Knäuel< und >Plaques< zur Diagnose >Alzheimer< führen.
Alzheimers Zeichnung der >Knäuel<, die er im Gehirn von Auguste D. gefunden hatte.
Aber der historische Moment verstreicht in Schweigen. Als Alzheimer zu Ende gesprochen hat, lässt der Vorsitzende Zeit für die Diskussion. Keiner der Anwesenden verspürt ein Bedürfnis danach. Auch der Vorsitzende hat keine Frage vorbereitet. Alzheimer nimmt wieder Platz. Der Vorsitzende kündigt den nächsten Redner an, der über »die Analyse psychotraumatischer
Symptome« sprechen wird. Den restlichen Nachmittag über geraten die Anwesenden - aus Zürich ist Carl Gustav Jung angereist -in eine erhitzte Debatte über den Wert der Psychoanalyse. Am nächsten Tag berichtet eine Lokalzeitung ausführlich von den heftigen Diskussionen über Freud. Eine einzige Zeile widmet sich einem »eigenartigen und schweren Krankheitsprozess, der einen bedeutenden Schwund der Nervenzellen innerhalb von viereinhalb Jahren verursachte«. 15
»WIR SITZEN SO FRÖHLICH BEISAMMEN«
Was lag 1907 denn nun vor? Eine klinische Beschreibung, basierend auf einer einzigen kranken Frau, eine neuropathologische Analyse ihres Gehirns und eine Publikation in einer Fachzeitschrift. Auch Alzheimer fand, dies sei eine zu schmale Grundlage, um eine neue Krankheit zu identifizieren. Einer seiner Gastforscher, der Italiener Gaetano Perusini, wurde gebeten, ähnliche Fälle aufzuspüren. Er fand drei, die schon kurz nach ihrer Aufnahme verstarben und so für eine neuropathologische Untersuchung zur Verfügung standen. Einer von ihnen, ein Korbflechter, der jeden Tag stundenlang ängstlich und desorientiert in seinem Zimmer hin- und herlief und alles augenblicklich wieder vergaß, war sogar noch jünger als Auguste: 45 Jahre. Die beiden anderen waren 63 und 65 Jahre alt. Perusini analysierte außerdem noch einmal den Fall Auguste und hatte 1908 einen ausführlichen Bericht seiner Befunde fertig. 16 Der Krankenakte Augustes entnahm er Details, die auch jetzt noch in Tausenden traurigen Varianten den Umgang mit Alzheimer-Patienten kennzeichnen: »27. November 1901. Sie sagt, wenn der Arzt zu ihrem Bett kommt, mit besorgtem Gesichtsausdruck: >Sie denken nicht so viel Gutes über mich, nicht wahr?< >Warum?< >Ich weiß es nicht, wir haben keine
Weitere Kostenlose Bücher