Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
war. Dieses Handbuch überarbeitete er alle paar Jahre, für ständig erweiterte Auflagen, bis es schließlich vier dicke Bände umfasste. Drei Tage vor seinem Tod im Jahre 1926 diktierte er noch das Vorwort zur neunten Auflage. In dem Handbuch stellte er die von ihm entwickelte und nach ihm benannte Systematik psychischer Krankheiten vor, die ihm den Beinamen >Linnaeus der Psychiatrie< einbrachte. Ein weniger bekanntes Eponym ist der >Kraepelin-Sekt<, eine wässrige Limonade, die der überzeugte Abstinenzler nach seiner Ernennung zum Klinikdirektor einführte, um das allgemeine Alkoholverbot zu kompensieren. Auch in ihrer Einstellung zu Genussmitteln waren Kraepelin und Alzheimer zeitlebens grundverschieden. Doch der größte Gegensatz war wohl, dass Alzheimer sich in der Gelehrtenrepublik von Kollegen umgeben fühlte, Kraepelin von Rivalen. Von der Königlich Psychiatrischen Klinik in München aus behielt Kraepelin peinlich genau freie Lehrstühle im Auge, nicht, weil er sie selbst besetzen wollte, sondern um dafür zu sorgen, dass Geistesverwandte dahin berufen wurden. Das erforderte Einfluss in Zeitschriftenredaktionen und die Leitung neuro-psychiatrischer Vereinigungen. Zu Alzheimers Lieblingsbeschäftigung - durch ein Mikroskop zu spähen - hatte Kraepelin keinerlei Affinität. Er hatte vielversprechende Pathologen angeworben und ließ sie in einem vorzüglich ausgestatteten Labor arbeiten, aber persönlich hätte er sich nie hinter ein Mikroskop bequemt. Nur ganz selten ließ er sich im dritten Stock blicken. »Er schritt durch die großen Räume«, erinnerte sich eine der Assistentinnen später, »und schaute sich alles interessiert an. Als er das Labor wieder verließ, schauten alle erwartungsvoll zu ihm auf: Jaja, die anatomischen Mühlen mahlen aber sehr langsam !<, bemerkte der Mann, der die entscheidende Stimme in der deutschen Psychiatrie war.« 22
So gewandt, wie sich Alzheimer im Mikrokosmos des Gehirngewebes bewegte, so begierig zog Kraepelin durch die weite Welt der Kongresse, Gastvorlesungen und Studienreisen. Das bedeutete, dass jemand zum stellvertretenden Direktor ernannt werden musste. Dafür gab es in Kraepelins Augen keinen geeigneteren Kandidaten als Alzheimer. Der dachte darüber jedoch vollkommen anders. Er hasste alles, was ihn von seiner Arbeit abhielt, und leistete Kraepelins wiederholtem Drängen lange Widerstand. Schließlich ließ er sich doch dazu überreden, unter der Bedingung, dass sofort nach einem Stellvertreter des Stellvertreters Ausschau gehalten werden müsse. Daraus wurde in den ersten Jahren natürlich nichts. Alzheimers Biographen haben dokumentiert, dass Alzheimer allein im Jahr 1908 fast fünf Monate für Kraepelin einspringen musste.
Im Frühling dieses Jahres reiste Kraepelin für sechs Wochen in die Schweiz, um dort die achte Auflage seines Handbuchs vorzubereiten. Er bearbeitete auch den Teil über >senile Demenz<. 23 Gegen Ende seiner Abhandlung von Hirnkrankheiten, die im späteren Lebensalter auftreten können, schrieb er, Alzheimer habe eine charakteristische Gruppe von Fällen mit starken Zellveränderungen entdeckt. Er stellte eine knappe Übersicht der wichtigsten Symptome und der neuropathologischen Befunde Alzheimers zusammen. Danach folgte die Zuerkennung des Eponyms - in einer ziemlich reservierten Formulierung: »Die klinische Deutung der Alzheimerschen Krankheit ist zurzeit noch unklar. Während der anatomische Befund die Annahme nahelegen würde, dass wir es mit einer besonders schweren Form des Altersblödsinns zu tun haben, spricht dagegen einigermaßen der Umstand, dass die Erkrankung bisweilen schon Ende der 40er Jahre beginnt. Man würde in solchen Fällen also mindestens ein >Senium praecox< anzunehmen haben, wenn es sich nicht doch vielleicht um einen vom Alter mehr oder weniger unabhängigen Krankheitsverlauf handelt.« 24 Kraepelin folgte hiermit Alzheimers Gedankengang in Tübingen 1906: Die Symptome wirken klinisch und neuropa-thologisch wie senile Demenz, auch >Altersblödsinn< oder >Grei-senblödsinn< genannt, aber Auguste war gerade einmal um die fünfzig, als sie erkrankte. Möglicherweise gab es also auch eine >präsenile Demenz<. Aber handelte es sich dann um eine andere Krankheit als die senile Demenz oder nur um einen atypisch frühen Beginn derselben?
Alzheimer kam 1911 auf diese Frage zurück. Von Perusini hatte er mittlerweile die drei neuen Fälle, dazu den Fall Feigl und einen weiteren Patienten, der »erst Ende sechzig«
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