Geisterfahrer
langweilig.« Er redet wie ein Zwölfjähriger.
Ich ringe um Fassung. Etwas in mir will ihn anbrüllen und schütteln, irgendwie aufwecken. Ich atme tief durch, betrachte mich wieder im Spiegel. Mein Gesicht ist gerötet. Es kann mir doch egal sein. Er ist nicht mein Kind.
»Nein, Roland, ich werde nicht mitkommen. Wir werden uns wahrscheinlich niemals wiedersehen.«
Er brummt etwas, vielleicht summt er sogar eine Melodie. »Ist es wegen Tante Janine?«, fragt er endlich.
»Wegen …« Es verschlägt mir kurz die Sprache. »Nein, Roland. Das hat mit Janine nichts zu tun. Geh wieder spielen!«
Keine Antwort, vielleicht nickt er, in seiner leicht autistischen Art. Dann macht es klick, und die Verbindung ist weg. Immerhin. Das war das längste Gespräch, das ich je mit ihm geführt habe. Und vermutlich das letzte.
Melanie Sekowijak wohnt im Wedding, wie wir alle damals, aber nicht mehr unter der Adresse ihrer Eltern. Ich habe die Schnauze voll von seltsamen Telefonaten, und ich muss das jetzt hinter mich bringen, den letzten und wichtigsten Punkt auf meiner Liste.
Im Bus ist es so heiß, als würde jemand einen monströsen Riesenfön auf das Dach halten. Aus allen Richtungen höre ich das Gequietsche von MP3-Player-Kopfhörern und -Lautsprechern. Kids in viel zu großen Klamotten sitzen nebeneinander, teilen sich die Stöpsel der Ohrstecker und tippen schweigend und mit fliegenden Daumen Nachrichten in ihre Mobiltelefone. Vermutlich senden sich nebeneinander sitzende Kids gegenseitig Kurzmitteilungen. Das ergibt ja auch Sinn, schließlich hören sie Musik.
Erstaunlicherweise bin ich ziemlich ruhig. Das Treffen mit Kuhle hat mich etwas desillusioniert, meine Erwartung hält sich in Grenzen. Bisher verliefen alle Begegnungen mit der Vergangenheit ganz anders, als ich das erwartet hatte, und bei dieser wird es ähnlich sein. Pepe hat es auf den Punkt gebracht: Das Leben kommt immer von vorn. Ich sollte mir keine Hoffnungen machen, dass da noch etwas ist.
Vielleicht sollte ich es sogar einfach lassen. All die Zettel und Telefonnummern wegschmeißen, irgendwo hinfahren und auf die Vergangenheit scheißen. Raus an der nächsten Haltestelle, zurück zum Hotel, kurz packen, und dann: Ein Flieger nach New York. Ein Zug nach Rom. Ein Bus nach Südfrankreich. Ich habe die Freiheit, das zu tun. Drei, vier Jahre kann ich durchhalten, und wenn ich tatsächlich den Wert der Hälfte des Hauses ausgezahlt bekomme, sogar noch eine Weile länger. Ich muss mir keine peinlichen DJ-Auftritte mehr geben, ich muss nicht Adressen von Leuten abklappern, die ich seit Jahrzehnten nicht gesehen habe und deren Leben keine Schnittmenge mehr mit meinem hat.
Aber was bleibt dann? – Einer, der keine Freunde hat, niemanden kennt, fast vierzig ist und ziellos durch die Weltgeschichte tingelt. Auch keine besonders attraktive Perspektive.
Der Bus hält, ich merke spät, dass ich hier raus muss, drücke mich durch die sich bereits schließenden Flügeltüren, begleitet vom Schimpfen des Fahrers, und bin wieder daheim. Turmstraße, Alt-Moabit, Stromstraße. Ich könnte zu meiner alten Schule wandern, oder am Amtsgericht und an der JVA vorbei, in der Jens gearbeitet und Frank fast zwei Jahre gesessen hat, ich könnte mir den Tabakwarenladen ansehen, in dem wir früher Juicy-Fruit-Kaugummis, Brausepulver und Mars gekauft haben. Ich könnte zur Bernauer Straße gehen, zu der Stelle, an der mir Kuhle vor über zwanzig Jahren die Mauer gezeigt hat und die Versöhnungskirche, die längst abgerissen ist. Aber ich muss nicht.
Sie wohnt in der Bandelstraße, die kurz vor dem Amtsgericht von der Turmstraße abzweigt; ich kann das bedrückende, graubraune Justizgebäude sehen, bevor ich mich nach links wende. Der Wedding und Neukölln nehmen sich nicht viel. Wobei – Wedding. Inzwischen heißt die Gegend »Berlin-Mitte«, und genau genommen war das hier auch früher nicht der Wedding, sondern der Norden des Bezirks Tiergarten. Aber Wedding ist eher ein Gefühl, nicht so sehr ein Ort.
Ein komisches Gefühl. Ich meine, mich an die Düfte und die Farben der Fassaden zu erinnern, an die Anordnung von Fenstern. Aber das ist trügerisch. Vermutlich hat sich alles verändert. Ich zähle die Hausnummern, passiere Schmutz, Leerstand und Verfall, dann stehe ich vor einem Gebäude, das etwas wild aussieht, vorsichtig gesagt. Aber auf positive Art. Die Front ist kunterbunt angemalt, die Fensterrahmen glänzen rot, gelb, grün und blau, die schmalen Balkone sind mit
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