Geisterfahrer
und sehe zu, dass ich aus dieser Gegend fortkomme.
15. Rückkehr
Wolfgang hält mich fast den gesamten nächsten Vormittag über am Telefon. Er tut mir leid, mehr, als wahrscheinlich angemessen wäre, aber ich weiß nicht so recht, was ich ihm anbieten soll. Keinesfalls werde ich nach Nieder-Sengricht fahren und ihm oder meinem potentiellen Nachfolger unter die Arme greifen. Wir einigen uns darauf, dass er sich nach jemandem umschaut und den dann nach Berlin zu schicken versucht. Wir wollen uns gerade verabschieden, als er mich fragt: »Was willst du tun? In Sachen … Gisela?«
»Ich werde die Annullierung der Ehe betreiben«, sage ich; diese Formulierung hat mein Anwalt Rauh wie Unglatt auch benutzt. Vermutlich wird es bereits Schriftverkehr geben. »Und natürlich bestehe ich darauf, dass die Vaterschaft aberkannt wird. Ich bin nicht Rolands Vater.«
Ich war es nie.
Er räuspert sich. »Das habe ich mir gedacht. Aber was ich eigentlich wissen will … wirst du sonst noch etwas unternehmen?«
»Was meinst du? Ich will die Hälfte dessen, was das Haus wert ist. Eigentlich hätte ich Anspruch …«
»Nein, nein«, unterbricht er. »Du wirst bekommen, was du verlangst, sei dir sicher, dass ich dafür sorge.« Er atmet laut ein. »Nieder-Sengricht ist ein kleiner Ort«, sagt er dann leise, als wenn er Angst hat, belauscht zu werden. »Die Menschen sind konservativ. Mein Geschäft hängt von meinem Ruf ab. Wenn das herauskommt …«
Ich bin ehrlich verblüfft. Mein Schwiegervater, der Pragmatiker. Vermutlich ist ihm völlig egal, was aus Gisela wird, er würde sie leichten Herzens opfern.
»Bist du noch da?«, fragt er zaghaft. Der kreidefressende Wolf. Den klackernden Blender habe ich während des gesamten Telefonats kein einziges Mal gehört. Oder sein meckerndes Gelächter.
»Ja.«
»Ich würde mir das auch etwas kosten lassen.«
»Bitte?«
»Wenn das nicht die Runde macht. Mit Janine habe ich schon gesprochen. Außer dir und mir, Janine und Gisela weiß es bisher niemand.« Er hustet. »Und Norbert natürlich.«
»Was ist mit Roland?«
»Wir … wir werden es ihm noch sagen. Aber nach Möglichkeit nicht so bald. Bisher glaubt er, ihr seid im Streit auseinandergegangen. Frauengeschichten.«
» Meine Frauengeschichten?«
»Du hattest immerhin ein Verhältnis mit Janine. Mit Giselas bester Freundin.«
Ich bin für einen Moment fassungslos, dann werde ich zornig. Richtig zornig.
»Wolfgang, ich beende das Gespräch jetzt«, blaffe ich.
»Aber …«, ruft er noch, doch ich breche die Verbindung ab. Sekunden später klingelt das Telefon wieder, zwanzig, dreißig Mal. Ich nehme nicht ab.
Für einige Minuten sitze ich an dem kleinen Schreibtisch in meinem Hotelzimmer und betrachte mich im Spiegel. Ich hätte jetzt gerne ein Foto von mir, eines aus meiner Kindheit, meiner frühen Jugend, aber Jens hat immer nur falsch parkende Autos fotografiert, gelegentlich mal Ute, Frank und Mark, niemals mich. Es gibt Bilder aus der Zeit mit Gisela, aber die liegen im Wohnzimmerschrank in Nieder-Sengricht. Ich sehe auf die Uhr, es ist fast eins. Roland müsste bald aus der Schule kommen. Nein, er dürfte zu Hause sein. In Niedersachsen sind seit Ende der vergangenen Woche Ferien; am kommenden Wochenende wollten wir nach Mallorca fliegen. In den Super-Club. Giselas Lieblingsreiseziel. Ich wähle die Nummer von Tim und Gisela Kaiser.
Das Freizeichen ertönt gute zwei Dutzend Male, wenn Roland gerade am Ego-Shooter hängt, wird es dauern, bis er reagiert. Natürlich werde ich auflegen, sollte Gisela rangehen. Aber sie hat erst ab Freitag Urlaub.
»Roland Kaiser«, höre ich plötzlich. Es klingt widerwillig, aber auch abwesend; ich habe ihn gestört.
»Hallo, Roland. Hier ist Tim.«
Er schweigt.
»Ich bin in Berlin«, sage ich.
»Toll.«
»Ich muss dir etwas sagen.«
»Das weiß ich schon«, brummelt er.
»Was weißt du schon?«
»Das mit dir und Tante Janine.«
Ich muss lachen. Tante Janine.
»Das ist Pillepalle. Ich muß dir etwas wirklich Wichtiges sagen.«
Er schweigt.
»Ich bin nicht dein Vater«, sage ich. Mein Herz klopft heftig.
Er schweigt weiter, dann sagt er: »Aha.«
»Aha? Ist das alles, was dir dazu einfällt?«
Wieder bleibt es eine Weile still.
»Kommst du mit nach Mallorca? Der Flug geht am Sonnabend um sieben.«
» Hallo ? Hast du mir zugehört? Ich bin nicht dein leiblicher Vater!« Ich schreie fast.
»Ja«, sagt er nur, abermals nach einer langen Pause. Und dann: »Schade. Du kommst also nicht mit? Nur mit Mama ist
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